Ihm war mit einem Mal klargeworden, dass durchaus die Möglichkeit bestand, dass Lorkin nicht gefunden werden wollte.
Nicht lange nach Sonnenaufgang hatte Savara auf einem hohen, den Elementen preisgegebenen Felskamm Halt machen lassen. Der Weg war im Laufe der Nacht immer steiler und zerklüfteter geworden, und sie alle hatten winzige, schwache Lichter benutzt, die dicht über dem Boden schwebten und den Weg erhellten. Nachdem sie Wachen postiert und Späher ausgesandt hatten, gab Savara dem Rest der Gruppe Anweisung, sich direkt unterhalb des Gipfels des Felsenkamms, wo man sie nicht sehen konnte, niederzulassen und zu versuchen, ein wenig zu schlafen.
»Unsere Verfolger sind jetzt mehrere Stunden hinter uns«, sagte sie. »Sie werden ebenfalls Rast machen müssen, und sie sind im Gegensatz zu uns nicht daran gewöhnt, in solch unwirtlichem Territorium zu reisen. Wir werden unseren Weg nach Sonnenuntergang fortsetzen.«
Die übrigen Verräterinnen trugen kleine Bündel wie die, die Lorkin, Tyvara und Chari getragen hatten, seit sie den Wagen verlassen hatten. Jetzt stellte er fest, worum es sich bei dem Bündel aus dickem Tuch handelte. Die Verräter entrollten ihre Bündel, um sie als Matratze zu benutzen. Er hatte angenommen, es handele sich um eine Art Decke. Aber es ergab Sinn, dass sie eine Matratze einer Decke vorzogen: Ein Magier konnte die Luft erhitzen, aber er konnte den Boden nicht weicher machen.
Gewiss nicht in dieser Gegend, dachte er, während er sich neben Chari und Tyvara ausstreckte. Das Gebiet bestand ganz aus Fels und Stein, und nur gelegentlich sah man einen verkümmerten Baum. Als er Schritte hörte, drehte er sich um und stellte fest, dass es Savara war. Hastig stand er wieder auf.
»Ich habe deinen Vorschlag überdacht und mich mit der Königin beraten«, erklärte sie ihm. Zweifellos mithilfe eines Blutrings, dachte er. »Wenn du immer noch wünschst, uns zum Sanktuarium zu begleiten, wird sie es gestatten. Aber nicht sie wird diejenige sein, die darüber entscheidet, ob man dir gestattet, wieder fortzugehen. Diese Entscheidung wird durch eine Abstimmung getroffen, was es wahrscheinlich macht, dass du wirst bleiben müssen. Es gibt viele, die fürchten werden, dass du die Lage der Stadt verraten wirst, wenn man dich gehen lässt.«
Lorkin nickte. »Ich verstehe.«
»Nimm dir ein wenig Zeit, um darüber nachzudenken«, sagte sie. »Aber ich werde deine Entscheidung brauchen, bevor wir heute Nacht wieder aufbrechen.«
Sie ging davon, kletterte die Anhöhe hinauf und setzte sich in den Schatten eines großen Felsens. Sie hält Wache, überlegte Lorkin. Er legte sich wieder nieder, obwohl er wusste, dass er aufgrund der Entscheidung, die er treffen musste, nicht würde schlafen können.
»Niemand würde schlecht von dir denken, wenn du nach Hause gehen würdest«, erklang eine Stimme in der Nähe.
Er rollte sich herum und sah, dass Chari ihn beobachtete.
»Diese andere Partei – die, die jemanden ausgeschickt hat, um mich zu töten –, wird sie es noch einmal versuchen, wenn ich ins Sanktuarium gehe?«, fragte er.
»Nein«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Eine unserer Königinnen hat vor langer Zeit entschieden, dass es so etwas wie Morde im Sanktuarium nicht geben dürfe. Ich denke, sonst wären einige unserer Leute zu dem Schluss gekommen, dass Mord, wenn er außerhalb des Sanktuariums ein nützliches politisches Werkzeug ist, das auch innerhalb des Sanktuariums wäre. Im Sanktuarium ist Mord Mord, es sei denn, es handelt sich um eine Hinrichtung, was die Strafe für Mord ist.«
Lorkin nickte. Und das ist es, was Tyvara droht.
»Besteht die Möglichkeit, dass eine Verräterin meine Gedanken wird lesen wollen?«
»Sie werden alle einen Blick in deinen Kopf werfen wollen. Aber das ist ihnen nicht gestattet, es sei denn mit deiner Zustimmung. Es ist auch ein schwerwiegendes Verbrechen, die Gedanken eines anderen mit Gewalt zu lesen. Wenn wir das täten, hätten wir zu große Ähnlichkeit mit den Ashaki.«
»Wenn ich mich also weigere… Gewiss werden sie sich davon überzeugen wollen, dass ich gute Absichten habe, bevor sie mich in die Stadt lassen.«
»Sie würden es liebend gern tun. Aber Gesetz ist Gesetz. Einige der Gesetze sind ein wenig verrückt. Wie zum Beispiel das, nach dem die Königin entscheiden darf, ob ein Fremder die Stadt betreten darf, aber sie kann nicht entscheiden, ob der Betreffende die Stadt wieder verlassen darf.«
»Wenn ich nicht fortgehen darf, was wird man dann von mir erwarten?«
»Natürlich, dass du unsere Gesetze befolgst.« Sie zuckte die Achseln. »Dazu gehört auch, dass du dich an der Arbeit in der Stadt beteiligst. Du kannst nicht erwarten, dass man dir zu essen und ein Bett gibt, wenn du nicht in irgendeiner Weise mithilfst.«
»Das klingt gerecht.«
Chari lächelte. »Noch weitere Fragen?«
»Nein.« Lorkin rollte sich auf den Rücken. »Zumindest jetzt nicht.«
Er hatte viel nachgedacht, seit er sich Sprecherin Savara und ihren Gefährtinnen angeschlossen hatte, und er wusste jetzt, dass er das Sanktuarium vielleicht nicht wieder würde verlassen dürfen. Während dieser Zeit hatte er Gründe aufgelistet, die für ein Betreten des Sanktuariums sprachen, und solche, die dagegen sprachen. Die Liste der Gründe, warum er es nicht tun sollte, war kurz:
Ich bin nach Sachaka gekommen, um Dannyl zur Hand zu gehen, nicht um eigene Abenteuer zu verfolgen – selbst wenn diese Abenteuer zu einem günstigen Bündnis für die Gilde führen könnten.
Er besaß nicht die Vollmacht, um ein Bündnis auszuhandeln. Aber er brauchte die Verräterinnen nur dazu zu bringen, dass sie Verhandlungen überhaupt wünschten. Dann konnte die Gilde jemanden schicken, der besser geeignet war. Jemanden wie Dannyl.
Mutter wird das nicht gefallen.
Aber dies war eine Entscheidung, die er selbst treffen musste. Trotzdem, bei dem Gedanken an sie verspürte er Sehnsucht und Schuldgefühle. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, sie nie wiederzusehen. Oder nie wieder mit ihr zu sprechen. Er hatte noch immer keine Gelegenheit gehabt, ihren Blutring zu benutzen, ohne seine Existenz preiszugeben. Würde man ihn durchsuchen, wenn er das Sanktuarium betrat? Würden die Verräterinnen ihm den Ring abnehmen, wenn sie ihn fanden? Wenn sie ihm mit solchem Argwohn begegneten, würden sie gewiss nicht wollen, dass er eine magische Vorrichtung benutzte, die es ihm gestattete, all seine Erkenntnisse der Gilde zu übermitteln.
Er begann zu denken, dass er den Ring bald benutzen sollte, und sei es auch nur, um seine Mutter zu beruhigen. Und er sollte einen Platz suchen, an dem er ihn verstecken konnte.
Ich will den Ring behalten, und damit ist das ein Grund, nicht in das Sanktuarium zu gehen. Aber es ist nur ein kleiner Grund. Und einer, den ich ausräumen kann.
Es gab jedoch viel mehr Gründe, die für ein Betreten des Sanktuariums sprachen. Zunächst einmal war da Tyvara. Er konnte nicht einmal darüber nachdenken, sie im Stich zu lassen. Wenn er bei der Verhandlung nicht zu ihren Gunsten sprach, würde man sie vielleicht hinrichten. Sie hatte ihm das Leben gerettet und würde dafür womöglich sterben. Und das wäre dann ganz und gar seine Schuld.
Selbst wenn ich wüsste, dass ihr nichts passieren wird, der Gedanke, sie nie wiederzusehen… Ihm wurde eng um die Brust, und sein Herz begann schneller zu schlagen. Er runzelte die Stirn. Dahinter steckt mehr als die Verpflichtung, ihr zu helfen. Ich mag sie wirklich. Sehr sogar. Aber ich weiß nicht, ob sie meine Gefühle erwidert.
Er dachte an die Andeutung, die Chari gemacht hatte. Die Frau glaubte, dass Tyvara tatsächlich Gefallen an ihm gefunden hatte. Aber Tyvara benahm sich nicht so. Sie schien entschlossen, ihn zurückzuweisen, sie setzte stets eine finstere Miene auf, wenn er mit ihr sprach, und sie versuchte, ihn dazu zu überreden, nach Hause zurückzukehren. Wann immer sie das tat, versicherte ihm Chari, dass Tyvara ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie ihm nicht schon früher von dem Preis für das Betreten des Sanktuariums erzählt hatte, und dass sie nicht wollte, dass er um ihretwillen seine Freiheit opferte.