»Hat die wilde Magierin euch etwas darüber erzählt, woher sie kommt?«
»Nein. Sie weigert sich zu sprechen. Das Gleiche tut Forlie, obwohl ich denke, dass sie mehr aus Furcht handelt denn aus Halsstarrigkeit.«
Sie erreichten das obere Ende der Treppe, und Sonea führte ihn durch die Eingangshalle voller Wendeltreppen, an die Cery sich von seinem letzten, mehr als zwanzig Jahre zurückliegenden Besuch noch erinnern konnte. Gol und Anyi schauten sich beide mit vor Staunen offenem Mund um, und Cery musste ein Kichern unterdrücken. Sonea zögerte nicht, sondern führte sie in einen breiten Flur. Dieser endete in der gewaltigen Großen Halle, in der sich die alte Gildehalle befand. Cery glaubte nicht, dass Gol und Anyi den Mund noch weiter aufreißen könnten.
»Werdet ihr ihre Gedanken lesen?«, fragte Cery Sonea.
»Ich nehme an, dass wir das irgendwann tun werden. Das ist einer der Punkte, über den diskutiert worden ist. Da wir nichts über das Land wissen, aus dem sie kommt, wissen wir auch nicht, ob es als ein unverzeihlicher Verstoß gewertet werden würde, wenn wir ohne Erlaubnis ihre Gedanken lesen.«
»Aber ohne ihre Gedanken zu lesen, könnt ihr nicht herausfinden, woher sie gekommen ist«, sagte Anyi.
»Nein.«
»Und das ist der Grund, warum wir hier sind. Ihr braucht einen Beweis dafür, dass sie etwas Ungesetzliches getan hat.«
Sonea hatte die Türen zur Gildehalle erreicht, die sich langsam öffneten. Sie sah Anyi an und lächelte schief. »Ja.«
Als die Türen weit aufschwangen, schnappte Cery nach Luft. Die Halle war voller Magier. Es war ein Bild, von dem Cery vermutete, dass nur wenige Nichtmagier es je sehen würden, ohne sich eingeschüchtert zu fühlen.
Sieht so aus, als hätten sie die Magier, die sie während der Ichani-Invasion verloren haben, mühelos durch andere ersetzt, bemerkte er. Die in Reihen angelegten Sitze zu beiden Seiten waren besetzt, aber die Stuhlreihen in der Mitte des Raums waren leer. Diese Plätze sind für die Novizen, erinnerte er sich. Das ist gut. Unter ihnen finden sich wahrscheinlich mehr Leute von niederem Stand, die mich erkennen könnten.
Sonea schritt mit wehenden schwarzen Roben vor. Cery, der ihr folgte, sah Gol und Anyi an, die links und rechts neben ihm gingen. Beide schauten geradeaus auf die Szene vor ihnen.
Am entgegengesetzten Ende des Raums wartete ein Magier in blauen Roben. Der Administrator. Es war ein anderer Mann als der, den Cery vor langer Zeit diese Roben hatte tragen sehen. Hinter dem Administrator befanden sich weitere Sitzreihen. Die Höheren Magier. Cery betrachtete die Gesichter. Einige kamen ihm bekannt vor, andere nicht. Er erkannte Rothen, den Magier, der Sonea durch ihre frühen Jahre an der Universität geführt hatte. Der alte Mann begegnete Cerys Blick und nickte knapp.
Zwei Frauen standen vor den Höheren Magiern. Cery erkannte Forlie, die aussah, als sei sie von Sinnen vor Angst. Die andere Frau drehte sich um, um festzustellen, wer da näher kam, und Cerys Herz setzte einen Schlag aus.
Ja, das ist sie.
Während sie ihn anfunkelte, gefror Cery das Blut in den Adern. Im schwachen Licht des Dachbodens im Haus des Pfandleihers hatte er sie nicht allzu deutlich gesehen, wenn auch deutlich genug, um sie zu erkennen, als er ihr das nächste Mal begegnete. Und als er sie draußen auf der Straße vor dem Pfandleiher gesehen hatte, hatte einige Entfernung zwischen ihnen gelegen. Aber hier, im hellen Schein vieler magischer Lichtkugeln, bemerkte er etwas, das zu sehen er zuvor nicht die Gelegenheit gehabt hatte.
Sie hatte die gleichen seltsamen Augen wie Skellin. Sie gehörten derselben Rasse an.
Das ist etwas, das die Gilde nicht zu wissen braucht, entschied er. Skellin wäre nicht glücklich, wenn ich die Aufmerksamkeit der Gilde auf ihn lenke. Obwohl ich bezweifle, dass Sonea die Ähnlichkeit entgangen ist. Aber sie hat vielleicht noch mit niemandem darüber gesprochen…
Als Sonea vor den Höheren Magiern stehen blieb, verneigten sich Cery, Anyi und Gol. Sie stellte ihn und seine Leibwächter vor und erklärte, dass Cery der Freund sei, von dem sie gesprochen hatte, der Mann, der die wilde Magierin das erste Mal gesehen und sie darauf hingewiesen hatte. Als sie zum Ende gekommen war, sah der Administrator Cery an.
»Zunächst einmal möchte die Gilde dir für deine Unterstützung bei der Gefangennahme dieser wilden Magierin danken«, begann er. »Und zum Zweiten danken wir dir dafür, dass du uns heute hilfst.« Er deutete auf die beiden Frauen. »Erkennst du eine dieser beiden?«
Cery wandte sich Forlie zu. »Forlie habe ich vor einigen Tagen das erste Mal gesehen, als sie gefangen wurde.« Er deutete auf die andere Frau. »Die da habe ich vor einigen Monaten gesehen. Gol und ich waren auf der Fährte eines Mörders, und die Hinweise, die wir bekommen hatten, veranlassten uns, einen Ladenbesitzer und seine Kundin auszuspionieren – diese Frau. Wir haben gesehen, dass sie Magie benutzte, um einen Tresor zu öffnen.«
Die wilde Magierin starrte ihn immer noch an, und als sein Blick in ihre Richtung wanderte, kniff sie die Augen zusammen.
»Denkst du, dass diese Frau die Mörderin ist, die ihr sucht?«
Cery zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Bei dem Mord ist Magie benutzt worden. Sie verfügt über Magie. Aber ich habe keine Beweise dafür, dass sie es war.«
Der Administrator richtete seine Aufmerksamkeit auf Gol. »Du warst in der Nacht zugegen, als dein Auftraggeber dieser Frau nachspionierte.«
Gol nickte. »Ja.«
»War es so, wie er berichtet hat? Sind dir irgendwelche Einzelheiten aufgefallen, die ihm entgangen sind?«
»Er hat alles richtig erzählt«, antwortete der große Mann.
Jetzt sah der Administrator Anyi an. »Und warst du zugegen?«
»Nein«, erwiderte sie.
»Hast du beobachtet, dass diese Frau Magie gewirkt hat?«
»Ja. Ich habe sie das erste Mal ungefähr eine Stunde vor ihrer Gefangennahme gesehen – bevor Schwarzmagierin Sonea sie überwältigte. Sie hat beobachtet, wie Forlie gefangen wurde. Ich fand das ein wenig seltsam. Dann habe ich sie Magie benutzen sehen, um einige Vögel zu töten, die miteinander kämpften und so viel Lärm machten, dass sie möglicherweise Aufmerksamkeit auf sie gelenkt hätten. Ich bin fortgegangen, um… um Schwarzmagierin Sonea zu holen.«
Der Administrator wirkte nachdenklich, dann sah er Cery, Anyi und Gol der Reihe nach an. »Könnt ihr uns sonst noch etwas über die eine oder andere dieser Frauen erzählen?«
»Nein«, antwortete Cery. Er sah seine Tochter und seinen Leibwächter an. Beide schüttelten den Kopf.
Der Administrator wandte sich an die Höheren Magier. »Irgendwelche Fragen?«
»Ich habe eine«, sagte der Magier in den weißen Roben. Dies war der Hohe Lord, erinnerte sich Cery. Sonea hatte ihm erzählt, dass die Farbe der Roben des Hohen Lords verändert worden war und er jetzt Weiß trug, nachdem man beschlossen hatte, dass die Schwarzmagier logischerweise Schwarz tragen sollten. »Habt ihr jemals jemanden mit den gleichen körperlichen Besonderheiten wie diese Frau gesehen?« Der Mann deutete auf die wilde Magierin. »Abgesehen natürlich von ihrem Geschlecht.«
»Vielleicht ein oder zwei Mal«, erwiderte Cery.
»Wisst ihr, woher diese Leute kommen?«
Cery schüttelte den Kopf. »Nein.«
Der Magier nickte, dann bedeutete er dem Administrator, dass er keine weiteren Fragen habe. Erleichtert stellte Cery fest, dass er froh sein würde, wenn er diesen Ort verlassen konnte. Er mochte in der Unterwelt der Stadt ein mächtiger Mann sein, aber er war es nicht gewohnt, von so vielen Menschen einer Prüfung unterzogen zu werden. Ein Dieb arbeitet am besten unbeachtet. Es ist immer besser, durch seinen Ruf bekannt zu sein als dadurch, dass man im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.