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»Ja.« Dannyl nahm es in die Hand. »Es enthält die Geschichten, die ich von jenen gesammelt habe, die Zeugen der Ichani-Invasion waren.«

»Auch die meiner Mutter?«

»Natürlich.«

Lorkin nickte, dann lächelte er schief. »Nun, das muss ein Teil der Geschichte sein, zu dem Ihr keine weiteren Nachforschungen werdet anstellen müssen.«

»So ist es«, stimmte Dannyl ihm zu.

Der Blick des jungen Magiers wanderte über die Stapel von Büchern, Dokumenten und Aufzeichnungen. »Ich würde gern lesen, was Ihr habt. Und… kann ich Euch bei den Nachforschungen irgendwie helfen?«

Dannyl sah Lorkin überrascht an. Er hätte nie gedacht, dass Soneas Sohn ein Interesse an Geschichte haben könnte. Vielleicht langweilte sich der junge Mann und suchte nach etwas, mit dem er sich beschäftigen konnte. Möglicherweise würde er das Interesse schnell wieder verlieren, vor allem wenn ihm klar wurde, dass Dannyl bereits alle Informationsquellen erschöpft hatte. Es bestand nur eine geringe Chance, dass einer von ihnen die Lücken in der Geschichte jemals würde füllen können.

Wenn er das Interesse verliert, ist kein Schaden entstanden. Ich wusste nicht, warum ich ihm nicht erlauben sollte, es zu versuchen.

Und ein frischer Blick, eine andere Herangehensweise würde vielleicht neue Entdeckungen zutage fördern.

Und es wäre gut, hier in Kyralia jemanden zu haben, der mit Dannyls bisher geleisteter Arbeit vertraut war, sollte er sich dazu entschließen, das Land zu verlassen, um nach neuen Informationsquellen zu suchen.

Was eher früher als später geschehen könnte.

Dannyl hatte im Laufe der Jahre die Gildebotschafter befragt und sie gebeten, nach Material für sein Buch Ausschau zu halten. Sie hatten ihm einige Informationen geliefert, aber sie wussten nicht, wonach sie suchen sollten, und was sie ihm geschickt hatten, hatte verlockende Hinweise auf unzensierte Unterlagen enthalten, die ein neues Licht auf viele historische Ereignisse werfen konnten, Aufzeichnungen, die sich in Sachaka befanden.

Seit der Ichani-Invasion hatten Sachaka und Kyralia einander genau beobachtet. Glücklicherweise war beiden Seiten offenbar daran gelegen, künftig Konflikte zu vermeiden. Beide hatten in das jeweils andere Land einen Botschafter mit einem Gehilfen entsandt. Andere Magier durften die Grenze jedoch nicht überschreiten.

Das Amt des Botschafters wurde alle paar Jahre verfügbar, aber Dannyl hatte sich nicht dafür beworben. Zuerst, weil er Angst davor gehabt hatte. Der Gedanke, ein Land voller schwarzer Magie zu betreten, war erschreckend. Er war es gewohnt, für selbstverständlich zu halten, dass er eine der mächtigsten Personen in seiner Gesellschaft war. In Sachaka würde er nicht nur schwach und verwundbar sein, allen Berichten zufolge betrachteten die sachakanischen Meister der höheren Magie solche Magier, die sich nicht auf schwarze Magie verstanden, mit Abscheu, Misstrauen oder Geringschätzung.

Aber sie gewöhnten sich langsam an die Idee, hatte man ihm berichtet. Heutzutage behandelten sie Gildebotschafter mit mehr Respekt. Sie hatten sogar protestiert, als der letzte Botschafter aufgrund von Problemen mit dem Vermögen seiner Familie nach Kyralia zurückkehren musste. Sie hatten tatsächlich eine gewisse Zuneigung zu ihm gefasst.

Wodurch die Stelle des Botschafters frei geworden war, ein Umstand, dem Dannyl kaum widerstehen konnte. Er hatte schon früher in der Position gearbeitet, in Elyne, daher war er zuversichtlich, dass die Höheren Magier ihn für das Amt in Erwägung ziehen würden. Wenn es nicht funktionierte, konnte er einfach vor der Zeit wieder nach Imardin zurückkehren – und er wäre nicht der Erste, der das tat. Solange er in Sachaka war, konnte er nach Aufzeichnungen suchen, die die Lücken in seiner Geschichte der Magie füllten, und vielleicht ganz neue Zweige dieser Geschichte entdecken.

»Lord Dannyl?«

Dannyl schaute zu Lorkin auf, dann lächelte er. »Es wäre mir ein Vergnügen, wenn mir ein Kollege bei meinen Nachforschungen helfen würde. Wann möchtet Ihr anfangen?«

»Wäre morgen genehm?« Lorkin blickte auf den Tisch. »Ich vermute, ich werde eine Menge zu lesen haben.«

»Natürlich ist es genehm«, antwortete Dannyl. »Obwohl … wir sollten Tayend fragen, was er geplant hat. Lasst uns jetzt mit ihm reden – und diese Flasche Wein trinken.«

Als er den jungen Magier in das Gästezimmer führte, in dem sich Tayend abends für gewöhnlich entspannte, kehrten Dannyls Gedanken nach Sachaka zurück.

Mir sind die Quellen ausgegangen. Mir fällt nichts mehr ein, wo ich die fehlenden Stücke meiner Geschichte noch suchen könnte. Die Gelegenheit ist gekommen, und ich denke, ich habe den Mut, sie zu ergreifen.

Aber der andere Grund, warum er nie danach getrachtet hatte, Sachaka zu besuchen, lag darin, dass es bedeutete, Tayend zurückzulassen. Der Gelehrte würde den elynischen König um die Erlaubnis bitten müssen, nach Sachaka zu reisen, und es war unwahrscheinlich, dass er sie bekommen würde. Zum Teil lag das daran, dass Tayend weder allgemein bekannt war noch sich der Gunst des Hofes erfreute. Das war schon so gewesen, bevor er nach Kyralia gezogen war, um mit Dannyl zusammenzuleben. Zum Teil lag es daran, dass er ein »Knabe« war – ein Mann, der Männer Frauen vorzog. Die sachakanische Gesellschaft war in Bezug auf Knaben nicht so tolerant wie die elynische, sondern ähnelte in diesem Punkt eher der kyralischen Gesellschaft – solche Dinge wurden verborgen und ignoriert. Der elynische König würde ein Land nicht vor den Kopf stoßen wollen, das sein Reich immer noch mühelos besiegen könnte, indem er einen Mann dorthin schickte, den die Sachakaner missbilligen würden.

Aber was ist mit mir? Warum denke ich, dass der kyralische König oder die Gilde meine Bewerbung nicht aus demselben Grund zurückweisen würden?

Die Wahrheit war, Tayend verstand sich nicht so gut wie Dannyl darauf zu verbergen, was er war. Nicht lange nachdem er sich in Imardin niedergelassen hatte, hatte der Gelehrte einen Kreis von Freunden um sich geschart. Er war entzückt gewesen festzustellen, dass es in den kyralischen Häusern ebenso viele Knaben gab wie in den besten Kreisen Elynes, und sie hatten seine elynische Gewohnheit, Feste zu veranstalten, begeistert willkommen geheißen. Sie bezeichneten sich als den Geheimen Klub. Doch der Klub war nicht besonders geheim. Viele Mitglieder der kyralischen Gesellschaft wussten von ihm, und etliche hatten ihre Missbilligung zum Ausdruck gebracht.

Dannyl wusste, dass sein Unbehagen seinen Grund in den langen Jahren hatte, da er seine Natur hatte verbergen müssen. Vielleicht bin ich ein Feigling, oder vielleicht bin ich übervorsichtig, aber ich würde mein Privatleben lieber… nun… privat halten. Bei Tayend habe ich niemals die Wahl. Er hat mich niemals gefragt, wie ich leben wolle oder ob es mir recht sei, wenn ganz Kyralia weiß, was wir sind.

Hinter seinem Groll verbarg sich jedoch noch mehr. Im Laufe der Jahre hatte Tayend seine Aufmerksamkeit mehr und mehr auf seine Freunde gerichtet. Obwohl sich in dem Kreis einige fanden, deren Gesellschaft Dannyl genoss, waren die meisten doch nur verzogene Bälger aus den höheren Klassen. Und manchmal ähnelte Tayend ihnen mehr als dem jungen Mann, mit dem Dannyl vor all jenen Jahren auf Reisen gewesen war.

Dannyl seufzte. Er wollte nicht mit dem Mann, zu dem Tayend geworden war, auf Reisen gehen. Er hatte ein wenig Angst davor, dass es zu einem dauerhaften Bruch führen könnte, wenn sie in einem anderen Land aufeinander angewiesen sein würden. Auch konnte er nicht umhin, sich zu fragen, ob eine gewisse Zeit der Trennung nicht dazu führen würde, dass sie die Gesellschaft des anderen mehr zu schätzen wüssten.

Aber auch wenn einige Wochen oder Monate der Trennung uns vielleicht guttun würden – könnten wir eine Trennung von zwei Jahren überleben?

Als er in das Gästezimmer trat und feststellte, dass Tayend die Flasche bereits geöffnet und die Hälfte des Inhalts getrunken hatte, schüttelte er den Kopf.