Lorkin nickte.
»Es wird andere Möglichkeiten geben, wie du etwas bewirken kannst«, erklärte Rothen. »Möglichkeiten, die genauso befriedigend sind und erheblich weniger riskant. Du brauchst nur Geduld zu haben und bereit zu sein, Möglichkeiten zu ergreifen, wenn sie sich bieten.«
»Und das werde ich tun. Ich habe die Absicht, Sachaka zu überleben und zu irgendwelchen anderen Möglichkeiten zurückzukehren, die sich mir bieten«, sagte Lorkin entschlossen. »Aber für den Augenblick ist es dies, was ich tun will.«
Rothen sah Lorkin lange schweigend an, dann zuckte er die Achseln und trat einen Schritt zurück. »Solange du dir sicher bist und du die vollen Konsequenzen bedacht hast… Oh, und bevor ich es vergesse, deine Mutter hat mich gebeten, dir auszurichten, dass sie sich freuen würde, wenn du dich heute Abend zum Essen zu ihr gesellen würdest.«
Lorkin verkniff sich ein Stöhnen. »Danke. Ich werde kommen.«
Als ob ich eine Wahl hätte, dachte er. Er hatte auf harte Weise gelernt, dass eine Ablehnung einer Einladung zum Abendessen etwas war, das seine Mutter nicht leicht verzieh. Es gab da ein einziges versäumtes Abendessen vor fünf Jahren – was nicht einmal zur Gänze seine Schuld gewesen war –, und sie schaffte es immer noch, ihm deswegen ein schlechtes Gewissen zu machen.
Rothen wandte sich zum Gehen. Lorkin drehte sich wieder zur Tür um, dann hielt er noch einmal inne und blickte über die Schulter.
»Werdet Ihr mit uns essen, Rothen?«
Der alte Mann lächelte. »Oh nein. Heute Abend wird sie dich ganz für sich allein haben.«
Diesmal schaffte Lorkin es nicht, ein Stöhnen zu unterdrücken. Als er Magie aussandte, um den Türknauf zu drehen, hörte er Rothen leise lachen, während er davonging.
Sonea betrachtete den Mann, der ihr gegenüber am Tisch saß, und fragte sich nicht zum ersten Mal an diesem Abend, warum er sich die Mühe gemacht hatte, sie aufzusuchen. Es war sowohl für Antragsteller als auch ihre Gegner normal zu versuchen, die Höheren Magier zu beeinflussen; es wurde sogar von ihnen erwartet. Aber gewiss musste offensichtlich sein, wie sie abstimmen würde, da sie selbst aus der unteren Klasse kam, der ihre ganze Sympathie gehörte. Warum die Zeit verschwenden, wenn er seine Bemühungen besser darauf richten sollte, andere Höhere Magier dazu zu überreden, sich auf seine Seite zu schlagen?
»Die Regel ist offenkundig am häufigsten im Fall von Novizen aus den unteren Klassen ungerecht angewandt worden«, räumte Regin ein. »Aber Tatsache ist, dass einige wirklich aus Familien kommen, die in kriminelle Machenschaften verstrickt sind.«
»Ich heile regelmäßig Menschen, die in kriminelle Machenschaften verstrickt sind«, erwiderte sie. »Und ich kenne Leute in der Stadt, die ihr Geld nicht auf legale Weise verdienen. Das macht mich nicht zur Verbrecherin. Ebenso wenig wird ein Magier zum Verbrecher, weil ein Verwandter zufällig einer ist. Gewiss ist es genug, dass ein Magier – oder Novize – sich so benimmt, wie wir es von ihm wünschen.«
»Wenn wir nur darauf vertrauen könnten, dass sie es tun«, entgegnete Regin. »Aber ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Vermögens trifft es auf alle Magier und Novizen zu, dass jene, die durch Familie oder Freunde unehrlichen Leuten und Geschäften ausgesetzt sind, eher der Versuchung einer kriminellen Verstrickung erliegen als jene, die diesen Einflüssen nicht ausgesetzt sind.« Er verzog das Gesicht. »Ich glaube, dass diese Regel ihnen hilft, insbesondere dann, wenn sie sich nicht selbst helfen können. Es kann eine Ausrede sein, um sich aus einer Situation zurückzuziehen, wenn man von anderen unter Druck gesetzt wird.«
»Oder es kann sie zur Rebellion treiben, wenn sie sehen, dass die Regel ungerecht angewandt wird. Oder wenn sie versehentlich gebrochen wird, könnte der Betreffende denken, dass es, wenn man erst eine Regel gebrochen hat, nicht mehr so sehr ins Gewicht fallen wird, wenn er noch eine bricht. Und dann sind da jene, die gerade das Verbotene am aufregendsten finden.«
»Weshalb wir die abschreckende Wirkung der Regel brauchen.«
»Ist sie abschreckend oder, verdrehterweise, ermutigend?« Sie seufzte. »Die Schwäche dieser Regel liegt darin, dass sie nicht durchgängig angewandt wird – und ich glaube nicht, dass sich dieses Problem lösen lässt.«
»Ich stimme zu, dass es eine Schwäche ist, aber nicht, dass das Problem sich nicht lösen lässt.« Regin lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. »Die Sache ist die, die Dinge haben sich verändert. Das Verbrechen ist in die höheren Klassen eingesickert wie Feuchtigkeit in Wände. Sie sind es, für die wir die Regel brauchen, nicht die unteren Klassen.«
Sonea zog die Augenbrauen hoch. »Gewiss glaubt Ihr nicht, dass die höheren Klassen in der Vergangenheit nicht gespielt und gehurt haben? Ich kann Euch einige Geschichten erzählen…«
»Nein.« Regin öffnete die Augen wieder und sah sie an. »Ich rede nicht von den üblichen Missetaten. Was ich meine, ist größer. Bösartiger. Und erheblich besser organisiert.«
Sonea öffnete den Mund, um ihn um eine nähere Erklärung zu bitten, wurde jedoch von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Sie wandte sich ab und sandte ein wenig Magie aus, um die Tür zu entriegeln, und als sie einwärtsschwang, hob sich ihre Laune, denn Jonna trat ein, in den Händen ein großes, mit verschiedenen Speisen beladenes Tablett.
Soneas Tante und Dienerin blickte von ihr zu Regin und verneigte sich dann höflich. »Lord Regin.« Sie stellte das Tablett ab, schaute Sonea an und trat einen Schritt zurück.
»Geh nicht meinetwegen.« Regin erhob sich und drehte sich zu Sonea um. »Ich werde ein andermal wiederkommen.« Er neigte den Kopf. »Danke, dass Ihr mich angehört habt, Schwarzmagierin Sonea.«
»Gute Nacht, Lord Regin«, erwiderte sie.
Jonna trat beiseite, um ihn vorbeizulassen. Als die Tür sich hinter ihm schloss, kam die Frau herbei und stellte das Tablett auf den Tisch.
»Habe ich gestört?«, fragte sie.
»Ja. Gerade rechtzeitig. Danke.«
Während ihre Tante die abgedeckten Schalen auf den Tisch stellte, seufzte Sonea und blickte sich im Raum um.
Als man sie das erste Mal in die Räume im Magierquartier geführt hatte, hatte der Luxus sie beeindruckt, aber ihr war nichts Ungewöhnliches an der Größe dieser Räume aufgefallen. Sie hatte nicht gewusst, dass sie klein waren im Vergleich zu den Häusern, in denen die meisten Männer und Frauen der höheren Klasse lebten. Jede Zimmerflucht umfasste zwei bis vier Räume, je nach Größe der Familie des Magiers, und die Räume waren von bescheidenen Ausmaßen.
Abgesehen von gelegentlichen Klagen waren die meisten Magier bereit, in solch kleinen Quartieren zu leben, um innerhalb der Gilde wohnen zu können. Sie hatten sich an die Einschränkungen angepasst. So aßen sie zum Beispiel nicht an einem Esstisch; stattdessen wurden Mahlzeiten auf einem niedrigen Tisch serviert, den man vor die Stühle im Gästezimmer gestellt hatte. Die einzigen Ausnahmen waren die formellen Mahlzeiten der Gilde, und diese wurden an einem langen Esstisch im Bankettsaal innerhalb eines zweckmäßig gestalteten Gebäudes serviert.
Obwohl es noch eine andere Ausnahme gab – den kleinen Speiseraum in der Residenz des Hohen Lords.
Eine Erinnerung an diesen Raum flammte in ihr auf und an Speisen, die sie seit Jahren nicht mehr gekostet hatte. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, was aus Takan geworden war, Akkarins Diener, einem ehemaligen sachakanischen Sklaven, der solch wunderbare Gerichte gekocht hatte. Seit der Invasion hatte man nichts mehr von ihm gehört oder gesehen. Sie hatte immer gehofft, dass er überlebt hatte.
Jonna ließ sich mit einem schweren Seufzer der Erleichterung auf ihren Stuhl sinken. Sonea betrachtete die abkühlenden Gerichte auf dem Tisch. Es war keine exotische Mahlzeit, nur die gewohnte Kost aus der Küche der Gilde. Sie runzelte die Stirn. Es hätte Lorkin sein sollen, der Regin unterbrach.
»Er wird bald hier sein«, versicherte ihr Jonna, die die Quelle ihrer Sorge erraten hatte. »Er würde es nicht wagen, eine Mahlzeit mit seiner Mutter zu versäumen.«