Sonea stieß einen mürrischen Laut aus. »Er scheint durchaus bereit, mir zu trotzen und sich in Sachaka umbringen zu lassen. Warum sollte ihn ein bloßes versäumtes Abendessen kümmern?«
»Weil er in diesem Fall auch mir Rede und Antwort stehen müsste«, antwortete Jonna.
Sonea sah ihrer Tante in die Augen und lächelte. »Du kannst ruhig gehen. Ich werde dir ohnehin nur in den Ohren liegen.«
»Meine Ohren sind recht robust. Außerdem, wenn er nicht erscheint, dürfen wir all dieses Essen nicht verderben lassen.«
»Weißt du, ich werde ohnehin warten, bis es verdorben ist, daher hat es keinen Sinn, dass wir beide hungrig bleiben. Geh. Ranek hat gewiss auch Hunger.«
»Er arbeitet heute bis spät in den Abend hinein und wird drüben in den Dienstbotenquartieren essen.« Jonna erhob sich, betrachtete die Bücherregale und zog dann einen Lumpen aus ihrer Uniform, um eins davon abzuwischen.
Ich werde sie nicht umstimmen können, dachte Sonea. Nachdem sie in die Gilde umgezogen waren, um Sonea durch Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft zu helfen, hatten Jonna und Ranek sich eingelebt und Stellen als Dienstboten gefunden – Jonna als Soneas Dienerin und Ranek bei den Robenmachern. Ihre beiden Kinder waren hier aufgewachsen, hatten mit Lorkin gespielt und später gut bezahlte Stellen als Dienstboten in reichen Häusern in der Stadt gefunden. Jonna war sehr erfreut darüber. Es war das Beste, worauf ein Mitglied ihrer Klasse hoffen konnte. Nur indem man Magier wurde, konnten außerhalb der Häuser geborene Menschen in die Adelsklasse des Landes vordringen.
Ein Klopfen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Tür. Sonea holte tief Luft, bevor sie ein wenig Magie zu dem Türriegel sandte. Der Riegel öffnete sich mit einem Klicken, und Lorkin trat mit zerknirschter Miene ein. Sie seufzte vor Erleichterung.
»Entschuldigt, dass ich mich verspätet habe«, sagte er. »Mutter. Jonna.« Er nickte beiden Frauen zu. »Die Besprechung ist erst vor wenigen Minuten zu Ende gegangen.«
»Nun, du kommst genau rechtzeitig«, erwiderte Jonna und ging zur Tür. »Wenn es noch länger gedauert hätte, hätte ich deine Mahlzeit für dich gegessen.«
»Warum bleibst du nicht und leistest uns Gesellschaft?«, fragte er mit einem hoffnungsvollen Lächeln.
Sie bedachte ihn mit einem abschätzenden Blick. »Damit wir beide dir sagen, was für ein Narr du bist?«
Er blinzelte, dann grinste er kläglich. »Gute Nacht, Jonna.«
Sie schnaubte erheitert, bevor sie zur Tür hinausschlüpfte und sie hinter sich zuzog.
Sonea schaute ihn an. Er sah ihr für einen kurzen Moment in die Augen und blickte sich dann im Raum um.
»Ist irgendetwas anders als sonst?«, fragte er.
»Nein.« Sie deutete auf den anderen Stuhl. »Setz dich. Iss. Es hat keinen Sinn, das Essen noch kälter werden zu lassen.«
Er nickte, und sie begannen ihre Teller zu füllen. Sonea bemerkte, dass er mit seiner gewohnten Begeisterung aß. Oder war er in Eile? Wollte er diese Mahlzeit hinter sich bringen? Um seiner herrischen Mutter zu entfliehen und nicht länger an Dinge erinnert zu werden, die er lieber ignorieren wollte – wie die Risiken einer Reise nach Sachaka?
Sie wartete, bis das Essen vorüber war und er erheblich entspannter wirkte, bevor sie das Thema anschnitt, von dem er wissen musste, dass es der Grund für seine Einladung hierher gewesen war.
»Also«, begann sie. »Warum Sachaka?«
Er blinzelte und wandte sich ihr zu. »Weil… weil das das Land ist, in das ich reisen will.«
»Aber warum willst du dorthin reisen? Von allen Orten ist es der gefährlichste – gerade für dich.«
»Lord Maron denkt das nicht. Ebenso wenig wie Lord Dannyl. Zumindest glauben sie nicht, dass es für mich gefährlicher sein wird als für jeden anderen.«
Sonea musterte ihn eingehend. »Das liegt nur daran, dass sie nichts glauben, bevor sie einen Beweis dafür sehen. Die einzige Möglichkeit, ihnen zu beweisen, dass eine Reise nach Sachaka für dich gefährlich ist, besteht darin, dich dort hinzubringen und zu beobachten, wie dir etwas Schlimmes zustößt.«
Er kniff die Augen zusammen. »Dann hast du auch keinen Beweis dafür.«
»Nicht diese Art von Beweis.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich wäre kaum eine verantwortungsbewusste Mutter, wenn ich dich nach Sachaka brächte, nur um zu überprüfen, ob meine Einschätzung der Gefahr zutreffend ist.«
»Woher weißt du dann, ob es gefährlich ist?«
»Ich weiß es wegen der Dinge, die dein Vater mir erzählt hat. Wegen der Dinge, die Gildebotschafter und Händler seither bestätigt haben. Sie alle stimmen darin überein, dass Sachakaner durch ihren Ehrenkodex verpflichtet sind, Rache für den Tod eines Familienmitglieds zu nehmen – selbst wenn sie dieses Familienmitglied nicht mochten und selbst wenn dieses Familienmitglied ein Ausgestoßener war.«
»Aber die Gildebotschafter sind der Sache nachgegangen. Sie haben gesagt, dass die Familie von Kariko und Dakova keine Rache will. Die Brüder waren eine Belastung für sie, und sie haben ihren Tod offensichtlich als Erleichterung empfunden.«
»Sie haben auch gesagt, dass die Familie wegen der tollkühnen Invasion des Bruders einige Bewunderung gewonnen habe, trotz der Tatsache, dass sie Ausgestoßene waren und die Invasion gescheitert ist.« Sonea zuckte die Achseln. »Es ist einfacher, Dankbarkeit und Loyalität für jemanden zu empfinden, nachdem er tot ist. Du kannst die Tatsache nicht von der Hand weisen, dass die Botschafter nur mit einigen Familienmitgliedern gesprochen haben, nicht mit allen. Und dass, wenn das Oberhaupt der Familie eine Meinung äußert, andere, die eine abweichende Meinung vertreten, Stillschweigen bewahren würden.«
»Aber sie würden auch nicht gegen den Willen des Familienoberhaupts verstoßen«, bemerkte er.
»Nicht auf eine Art und Weise, die man zu ihnen zurückverfolgen könnte.«
Lorkin schüttelte frustriert den Kopf. »Niemand wird mir Gift ins Essen mischen oder mir im Schlaf die Kehle aufschlitzen. Selbst wenn ich keine Magie benutzen könnte, um das eine zu behandeln und mich gegen das andere zu beschirmen, wird niemand das Risiko eingehen, den Frieden zwischen unseren Ländern zu brechen.«
»Oder aber sie werden dich als den perfekten Vorwand dafür ansehen.« Sonea beugte sich vor. »Sie könnten Anstoß daran nehmen, dass die Gilde ihnen Akkarins Sohn geschickt hat. Deine kleine Vergnügungsreise könnte alles zerstören, wofür die Gilde seit der Invasion gearbeitet hat.«
Seine Augen weiteten sich, dann verhärteten sich seine Züge. »Es ist keine Vergnügungsreise. Ich… ich will Lord Dannyl helfen. Ich denke, was er zu tun versucht, ist… ist… es könnte uns helfen. Indem wir in die Vergangenheit schauen, könnten wir neues Wissen entdecken – neue Magie –, die uns helfen könnte, uns zu verteidigen. Vielleicht werden wir dann nicht länger schwarze Magie benutzen müssen.«
Einen Moment lang konnte Sonea nicht sprechen. Der Überraschung folgte schnell eine Woge des Schuldbewusstseins.
»Du ziehst doch nicht zu einer Mission aus, um mich zu retten, oder?«, fragte sie, und ihre Stimme klang schwächer als beabsichtigt.
»Nein!« Er schüttelte den Kopf. »Wenn wir solche Magie fänden, würde sie uns allen helfen. Sie könnte sogar den Sachakanern helfen. Wenn sie keine schwarze Magie brauchten, wäre ihr Widerstand gegen eine Beendigung der Sklaverei vielleicht geringer.«
Sonea nickte. »Mir scheint, dass jeder sich auf die Suche nach dieser neuen Magie machen könnte. Lord Dannyl sucht bereits danach. Warum musst du gehen?«
Lorkin hielt inne. »Lord Dannyl interessiert sich nur dafür, die Lücken in der Geschichte zu füllen. Mich interessiert mehr, wie diese Geschichte – dieses Wissen – jetzt genutzt werden könnte. Und in der Zukunft.«
Ein kalter Schauer überlief sie. Eine Reise ins Ungewisse, um magisches Wissen zu gewinnen. Genau das, was Akkarin dazu getrieben hatte, die Welt zu erkunden und zu guter Letzt nach Sachaka zu reisen. Und seine Reise hatte ein sehr, sehr schlimmes Ende genommen.