»Ein solches Verlangen nach Wissen hat dazu geführt, dass dein Vater zum Sklaven wurde«, erklärte sie ihm, »und er konnte von Glück sagen, dass es nur dazu führte und nicht zu seinem Tod.«
Ein nachdenklicher Ausdruck glitt über Lorkins Züge, dann straffte er sich und schüttelte den Kopf. »Aber dies ist etwas anderes. Ich wandere nicht unwillkommen und schlecht informiert in ein feindseliges Land. Die Gilde weiß heute viel mehr über Sachaka. Die Sachakaner wissen mehr über uns.«
»Die Gilde weiß nur, was die Sachakaner uns zu wissen erlaubt haben. Es muss – es wird – eine Menge Dinge geben, die man vor unseren Botschaftern geheim gehalten hat. Sie können nicht mit absoluter Gewissheit sagen, dass du dort sicher sein wirst.«
Er nickte. »Ich werde nicht behaupten, dass es kein Risiko gäbe. Aber es liegt bei den Höheren Magiern zu entscheiden, ob das Risiko für mich größer wäre als für andere.«
Er hat Zweifel, ging es ihr durch den Kopf. Er ist nicht blind gegen die Risiken.
»Und ich bin davon überzeugt, dass du sie dazu bringen wirst, über jede mögliche Konsequenz genau nachzudenken«, fügte er hinzu und sah sie eindringlich an. »Wenn ich verspreche, dass ich nach Hause kommen werde, sobald Lord Dannyl oder ich auch nur das leiseste Anzeichen von Gefahr wahrnehmen, wirst du deinen Protest dann zurückziehen?«
Sie lächelte schief. »Natürlich nicht.« Er runzelte die Stirn.
»Ich bin deine Mutter«, rief sie ihm ins Gedächtnis. »Es ist meine Aufgabe, dich daran zu hindern, dir Schaden zuzufügen.«
»Ich bin kein Kind mehr. Ich bin zwanzig Jahre alt.«
»Aber du bist immer noch mein Sohn.« Sie sah ihn an und hielt seinem Blick trotz des Ärgers in seinen Augen stand. »Ich weiß, dass du wütend auf mich sein wirst, wenn es mir gelingt, deine Reise zu verhindern. Das wäre mir lieber, als dich tot zu sehen. Es wäre mir lieber, du würdest dem Lonmar-Kult beitreten und ich würde dich nie wiedersehen. Dann wüsste ich zumindest, dass du lebst und glücklich bist.« Sie hielt inne. »Du sagst, du seist kein Kind mehr. Dann stell dir einmal folgende Fragen: Tust du dies, und sei es auch nur zum Teil, um deiner Mutter zu trotzen? Wie weit beruht dein Wunsch, diese Reise zu machen, auf dem Wunsch, dich als Erwachsener zu beweisen? Wenn du diese beiden Wünsche abziehst, würdest du dann immer noch so unbedingt nach Sachaka gehen wollen?«
Lorkin sagte nichts, aber sein Gesicht war angespannt vor Ärger. Plötzlich stand er auf.
»Du verstehst nicht. Endlich finde ich etwas, das sich zu tun lohnt, und du… du musst versuchen, es mir zu verderben. Warum kannst du mir nicht einfach Glück wünschen und dich darüber freuen, dass ich vielleicht mit meinem Leben etwas bewirke, statt herumzusitzen und mich zu betrinken oder Feuel zu nehmen?«
Mit rotem Gesicht stolzierte er zur Tür und verließ den Raum.
Sonea blieb wie gelähmt zurück, außerstande, etwas anderes zu tun, als die Tür anzustarren. Ihr Herz war hin- und hergerissen zwischen Liebe und Stolz, der Entschlossenheit, ihn zu beschützen, und der Angst, dass sie versagen könnte.
6
Die Anhörung
Vor der Gildehalle hatte sich eine beträchtliche Menge versammelt, wie Dannyl sah, als er die Große Halle betrat. Dankenswerterweise hatte Osen beschlossen, dass an der Anhörung zu der Frage, ob Lorkin nach Sachaka geschickt werden sollte, lediglich die Höheren Magier, Lorkin, er selbst und die früheren Gildebotschafter in Sachaka teilnehmen sollten. Während er die neugierigen Gesichter in der Menge betrachtete, fragte sich Dannyl, warum diese anderen Magier sich die Mühe gemacht hatten herzukommen, obwohl man sie nicht einlassen würde. Was hofften sie zu sehen? Wollten sie möglichst schnell herausfinden, welche Entscheidung getroffen wurde? Betraf der Ausgang sie in irgendeiner Weise?
Die Frage, ob Lorkin nach Sachaka reisen durfte oder nicht, konnte Hinweise darauf geben, ob auch andere Magier eine Chance hatten, das Land zu besuchen. Nein, das kann es nicht sein. Es gibt immer nur wenige Freiwillige für Positionen dort. Dannyl bemerkte ein vertrautes Gesicht in der Menge. Regin. Was hat er dabei zu gewinnen, ob Lorkin geht oder bleibt? Er runzelte die Stirn. Vielleicht eine gewisse Befriedigung, wenn Soneas Protest überstimmt wird. Aber Regin hat seit ihrer Novizenzeit keine Anzeichen von Feindseligkeit oder Missbilligung ihr gegenüber an den Tag gelegt. Wenn er irgendeinen Groll hegt, hat er ihn gut verborgen.
Die übrigen Magier wollten vielleicht einfach Soneas Reaktion sehen, falls es ihr nicht gelang zu verhindern, dass ihr Sohn nach Sachaka ging. Die Tatsache, dass die erste Schwarzmagierin der Gilde im Widerstreit mit dem Sohn des ehemaligen Hohen Lords lag, musste für eine Menge Tratsch gesorgt haben. Dannyl bedauerte beinahe, dass er sich abgewöhnt hatte, die geselligen Abende der Gilde im Abendsaal zu besuchen. Dann hätte er bereits gewusst, was die Menge heute angezogen hatte und was sie zu erleben hoffte und fürchtete.
Als Dannyl sich den Türen der Gildehalle näherte, trat ein anderer Magier aus einem Nebeneingang.
Schwarzmagier Kallen. Ich frage mich… machen all die Neugierigen sich Sorgen, dass Sonea die Fassung verlieren und schwarze Magie benutzen wird, sollte es ihr nicht gelingen, Lorkin an einer Reise nach Sachaka zu hindern?
Wenn es so war, hätten sie sich lieber rar machen sollen. Eine zornige Schwarzmagierin konnte für jeden fatal sein, der sich in der Nähe befand. Aber sie vermuteten wahrscheinlich, dass Kallen sie aufhalten und dass die Konfrontation eher unterhaltsam als gefährlich sein würde.
Als Dannyl in die Gildehalle trat, sah er, dass die meisten der Höheren Magier ihre Plätze eingenommen hatten. Lorkin wartete bereits auf einer Seite des Raums. Er ging zu dem jungen Mann hinüber, der ihn mit einem wachsamen Lächeln begrüßte.
»Nervös?«
Lorkin lächelte schief. »Ein wenig.« »Wie ist das Essen mit Eurer Mutter gestern Abend verlaufen?«
»Nicht gut.« Lorkins Lächeln verblasste, und er seufzte.
»Ich hasse es, mich mit ihr zu streiten. Aber ich hasse es auch, immer streiten zu müssen, um tun zu können, was ich tun will.«
»Immer?«, wiederholte Dannyl.
Lorkin verzog das Gesicht und wandte den Blick ab. »Nun, ich nehme an, nicht immer. Eigentlich überhaupt nicht oft. Nur jetzt, da es zählt. Da ich endlich etwas Wichtiges gefunden habe, an dem ich Anteil haben möchte.«
»Die Reise nach Sachaka ist Euch wirklich ein Anliegen?«, fragte Dannyl, ohne seine Überraschung zu verbergen.
»Natürlich.« Lorkin schaute in Dannyls fragende Augen. »Warum denkt Ihr, dass ich hingehen will? Doch gewiss nicht nur, um meiner Mutter zu trotzen?«
»Nein.« Dannyl zuckte die Achseln. »Ich dachte, Ihr würdet ein Abenteuer wollen. Von der langweiligen Gilde wegkommen, die Euch nur mit Einschränkungen belegt.« Er lächelte. »Ich hatte keine Ahnung, dass Ihr die Arbeit wirklich für so wichtig haltet.«
»Das tue ich«, versicherte Lorkin ihm. »Sowohl die Pflege guter Beziehungen mit Sachaka als auch die Erforschung der magischen Geschichte. Obwohl mich bei Letzterem mehr die Frage interessiert, was wir mit dem, was wir finden, machen können.«
Dannyl musterte Lorkin nachdenklich. Er hatte gehofft, dass der junge Magier schlechtestenfalls nützlich und bestenfalls ein guter Gefährte sein würde. Jetzt war er sehr zufrieden mit der Entdeckung, dass er vielleicht nicht nur bei seinen diplomatischen Pflichten, sondern auch bei seinen Forschungen einen Gehilfen haben würde, obwohl er sich ein wenig Sorgen machte, dass es ihm vielleicht nicht leichtfallen würde, Lorkin die minder wichtigen Pflichten zu überlassen, wenn er sich ein wenig Zeit wünschte, seinen eigenen Interessen nachzugehen.
Ein leises Raunen erfüllte die Halle, und Dannyl blickte sich um, um festzustellen, was es verursacht hatte. Sonea stand im Eingang, um – ausgerechnet – mit Lord Regin zu sprechen. Sie schien leicht verwirrt, nickte jedoch und wandte sich ab. Statt die Stufen an der Vorderseite der Halle zu ihrem gewohnten Platz hinaufzugehen, blieb sie Dannyl und Lorkin gegenüber stehen, während Regin fortging –