Wir haben eine Menge Ruinen gesehen, ging es Dannyl durch den Sinn. Draußen im Ödland und dann gelegentlich eingestürzte Mauern innerhalb von Gütern, die aussahen, als wären sie einst Herrenhäuser gewesen. Und jetzt dies… Die Kutsche fuhr an einer weiteren eingestürzten Mauer vorbei, und durch die Lücke konnte er die versengten, verfallenen Überreste eines Gebäudes sehen. Es ist so, als liege der sachakanische Krieg nur wenige Jahre zurück und als hätten sie noch keine Zeit für den Wiederaufbau gehabt.
Aber wenn die Erschaffung des Ödlands die Nahrungsmittelproduktion Sachakas halbiert hatte, wie Ashaki Tariko behauptete, dann war die Bevölkerung vielleicht in gleichem Maße geschrumpft. Häuser würden nicht wieder aufgebaut werden, wenn es niemanden gab, der in ihnen leben wollte.
Der Krieg liegt siebenhundert Jahre zurück. Gewiss sind die Häuser, die damals verlassen wurden, längst verschwunden. Diese Ruinen müssen jüngeren Datums sein. Vielleicht geht die Bevölkerung immer noch langsam zurück. Oder vielleicht sind die Besitzer zu arm, um sich Reparaturen oder einen Wiederaufbau leisten zu können.
Die Kutsche näherte sich einer jungen Frau, die barfuß die Straße entlangging und das schlichte, gegürtete Gewand einer Sklavin trug. Beim Näherkommen des Gefährts blickte sie auf, dann weiteten sich ihre Augen. Sie ging aus dem Weg, verbeugte sich und richtete den Blick zu Boden, als die Kutsche vorüberfuhr.
Dannyl runzelte die Stirn, dann beugte er sich näher zum Fenster vor, damit er nach vorn schauen konnte: Weitere Sklaven waren auf der Straße zu sehen. Auch sie reagierten mit Furcht, als die Kutsche näher kam. Einige drehten sich um und rannten davon. Jene, die in der Nähe von Nebenstraßen waren, machten sich diese zunutze. Andere erstarrten und pressten sich gegen die nächste Mauer.
Ist das ein normales Verhalten für Sklaven? Weichen sie vor allen Kutschen zurück, oder liegt es daran, dass dies eine Kutsche der Gilde ist? Wenn Letzteres zutrifft, warum fürchten sie uns? Haben irgendwelche von meinen oder Lorkins Vorgängern ihnen Grund zur Furcht gegeben? Oder fürchten sie Kyralia nur wegen vergangener Ereignisse?
Die Kutsche bog in eine andere Straße ein und überquerte dann eine breitere Durchgangsstraße. Dannyl bemerkte, dass die Sklaven hier nicht ganz so furchtsam waren, obwohl sie durchaus einen großen Bogen um die Kutsche machten. Nach einigen weiteren Biegungen fuhr die Kutsche plötzlich zwischen zwei Toren hindurch in einen Innenhof und blieb stehen. Ein Aufblitzen von Gold erregte seine Aufmerksamkeit, und er sah die Tafel an der Seite des Hauses: Gildehaus von Arvice.
Dannyl drehte sich zu Lorkin um. Der jüngere Mann saß sehr aufrecht da, und seine Augen leuchteten vor Erregung. Er sah Dannyl an, dann deutete er auf die Kutschentür.
»Der Botschafter zuerst«, sagte er grinsend.
Dannyl öffnete die Tür und stieg aus. In ihrer Nähe lag ein Mann auf dem Boden. Einen Moment lang zuckte Sorge in Dannyl auf, denn er fürchtete, der Fremde sei zusammengebrochen. Dann fiel es ihm wieder ein.
»Ich bin Gildebotschafter Dannyl«, sagte er. »Dies ist Lord Lorkin, mein Gehilfe. Du darfst dich erheben.«
Der Mann rappelte sich hoch, wobei er den Blick weiter zu Boden gerichtet hielt. »Mir wurde aufgetragen, Euch willkommen zu heißen, Botschafter Dannyl und Lord Lorkin, und Euch ins Haus zu geleiten.«
»Danke«, erwiderte Dannyl automatisch und erinnerte sich zu spät daran, dass derartige gesellschaftliche Gewohnheiten von Sachakanern als erheiternd und töricht angesehen wurden. »Führe uns hinein.«
Der Mann deutete auf eine nahe Tür, dann drehte er sich um und trat hindurch. Er blickte zurück, um sich davon zu überzeugen, dass sie ihm folgten, während er einen Flur entlangging. Geradeso wie in Ashaki Tarikos Haus führte er zu einem großen Raum – dem Herrenzimmer. Aber in diesem Raum herrschte Stimmengewirr. Es überraschte Dannyl, dass mindestens zwanzig Männer dort standen, alle in den üppig verzierten kurzen Jacken, die offensichtlich unter sachakanischen Männern gerade in Mode waren.
Bei seinem Eintritt drehten sich alle nach ihm um, und die Stimmen verstummten sofort.
»Botschafter Dannyl und Lord Lorkin«, verkündete der Sklave.
Einer der Männer trat lächelnd vor. Er hatte den typischen breitschultrigen Körperbau seiner Rasse, aber in seinem Haar waren einige graue Strähnen, und die Falten um Mund und Augen verliehen seinem Gesicht einen fröhlichen Ausdruck. Seine Jacke war dunkelblau und mit Goldstickerei besetzt, und an seinem Gürtel hing ein Schmuckmesser.
»Willkommen in Arvice, Botschafter Dannyl, Lord Lorkin«, sagte er und sah Lorkin kurz an, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf Dannyl richtete. »Ich bin Ashaki Achati. Meine Freunde und ich haben darauf gewartet, Euch zu begrüßen und Euch sachakanische Gastfreundschaft zuteilwerden zu lassen.«
Ashaki Achati. Erregung durchzuckte Dannyl, als er sich an den Namen erinnerte. Ein wichtiger Mann und Freund des sachakanischen Königs.
»Danke«, erwiderte Dannyl. »Ich…« Er sah Lorkin an und lächelte. »Wir fühlen uns geschmeichelt und geehrt.«
Ashaki Achatis Lächeln wurde breiter. »Erlaubt mir, Euch alle anderen vorzustellen.«
Wieder erfüllten Stimmen den Raum, während Achati die übrigen Männer einzeln oder paarweise herbeirief, um sie mit Dannyl bekannt zu machen. Ein fülliger Mann wurde als königlicher Meister des Handels vorgestellt, ein kleiner, gebeugter Mann entpuppte sich als der Meister des Gesetzes. Der Meister des Krieges schien eine eigenartige Wahl für dieses Amt zu sein – dünn für einen Sachakaner und übertrieben respektlos im Benehmen für eine so gewichtige und ernste Rolle. Die Freundlichkeit des Meisters der Dokumente wirkte erzwungen, aber Dannyl sah keine Abneigung in seinem Benehmen, nur eine Spur Langeweile.
»Und, habt Ihr schon irgendwelche Pläne zu Eurer Unterhaltung, falls Ihr von Euren diplomatischen Pflichten einmal nicht beansprucht seid?«, fragte ein Mann namens Ashaki Vikato, nachdem sie miteinander bekannt gemacht worden waren.
»Ich finde die Vergangenheit faszinierend«, antwortete Dannyl. »Ich würde gern mehr über Sachakas Geschichte erfahren.«
»Ah! Nun, dann solltet Ihr mit Kirota sprechen.« Der Mann deutete auf den Meister des Krieges. »Er redet immer über irgendwelche obskuren Teile der Vergangenheit oder liest alte Bücher. Was für die meisten sachakanischen Jungen eine lästige Pflicht ist, ist für ihn ein angenehmer Zeitvertreib.«
Dannyl schaute zu dem dünnen Mann hinüber, der über irgendeine Bemerkung grinste.
»Nicht mit dem Meister der Dokumente?«
»Nein«, sagte Ashaki Achati kopfschüttelnd. »Es sei denn, Ihr habt Probleme mit dem Einschlafen.«
Ashaki Vikato lachte leise. »Der alte Richaki hat mehr Interesse daran, die Gegenwart zu dokumentieren, als die Vergangenheit ans Licht zu zerren. Meister Kirota!«
Der dünne Mann drehte sich um und lächelte dann, als Vikato ihn heranwinkte. Er bahnte sich einen Weg durch den Raum.
»Ja, Ashaki Vikato?«
»Botschafter Dannyl interessiert sich für Geschichte. Was würdet Ihr vorschlagen, wie er diesem Interesse nachgehen kann, während er sich in Arvice aufhält?«
Kirota zog die Augenbrauen hoch. »Wirklich?« Dann runzelte er die Stirn und dachte nach. »Es ist nicht leicht, Zugang zu Aufzeichnungen oder Bibliotheken zu erhalten«, warnte er. »All unsere Bibliotheken befinden sich in Privatbesitz, und Ihr müsstet Meister Richaki um Erlaubnis bitten, die Palastdokumente einsehen zu dürfen.«
Achati nickte. »Ich stehe mit den meisten Bibliotheksbesitzern in Arvice auf gutem Fuß. Wenn Ihr wollt, kann ich Euch mit ihnen bekannt machen und feststellen, ob wir zu einigen der Bibliotheken Zutritt erlangen können.«