Es war Lady Vinaras Idee gewesen, in den Häusern nach Freiwilligen für die Hospitäler zu suchen. Sonea hatte keine Reaktion darauf erwartet, daher hatte es sie überrascht, als einige Tage später drei Frauen an der Tür erschienen waren. Sie hatte sich binnen kurzem nützliche Aufgaben ausdenken müssen, die für Frauen aus den höheren Klassen nicht zu einfach, aber auch nicht so wichtig waren, dass allzu viele Probleme aufgeworfen oder größere Schäden angerichtet wurden, wenn man ihnen mehr schlecht als recht nachkam.
Nur eine dieser Frauen war nach jenem ersten Tag ins Hospital zurückgekehrt, aber nach einigen Wochen hatte sie nicht nur bewiesen, dass sie tüchtig war, sie überredete auch bald drei andere Frauen – Freundinnen und Verwandte –, es einmal als »Hospitalhelferinnen« zu versuchen.
Einige Wochen später waren weitere Helferinnen gekommen. Gerüchte über die ursprünglichen Helferinnen hatten die Runde gemacht, und man fand allenthalben, dass sie Bewunderung für ihre noble Bereitschaft verdienten, zum Wohl der Stadt Zeit zu opfern und ihre persönliche Sicherheit zu riskieren. Plötzlich kam es regelrecht in Mode, in den Hospitälern zu helfen, und es gab eine Flut von Freiwilligen.
Die Realität der Arbeit dämpfte aber bald vielfach die Begeisterung der Helfer, und die Zahl neuer Freiwilliger sank wieder. Die Helfer, die verblieben, setzten ihre Arbeit in den Hospitälern nicht nur fort, sondern organisierten sich zu Schichten und hielten Versammlungen ab, um über neue oder bessere Möglichkeiten zu sprechen, wie Nichtmagier den Armen und den Heilern helfen konnten.
»Adrea!«, rief Nikea.
Die Frau drehte sich um, und als sie Sonea sah, verneigte sie sich tief. »Schwarzmagierin Sonea«, sagte sie.
»Adrea«, erwiderte Sonea. »Ich nehme heute Abend den Platz von Heiler Draven ein. Gebt mir ein paar Minuten, und dann schickt den ersten herein.«
Die Frau nickte. Sonea wandte sich wieder dem Flur zu, machte einen Schritt in Richtung des Untersuchungsraums und blieb dann stehen, um Nikea noch einmal anzusehen.
»Hier gibt es nichts, was spezieller Aufmerksamkeit bedürfte?«, fragte sie und deutete den Flur entlang zu den Patientenräumen.
Nikea schüttelte den Kopf. »Nichts, womit wir nicht fertigwerden können. Wir kümmern uns zu dritt um die Räume. Alle Patienten haben zu essen bekommen, und die Hälfte von ihnen schläft wahrscheinlich bereits. Ich werde es Euch wissen lassen, wenn sich etwas ergeben sollte.«
Sonea nickte. Sie trat vor die erste Tür auf der linken Seite und öffnete sie. Der Raum dahinter war groß genug für zwei Stühle, einen verschlossenen Schrank und ein schmales Bett an einer der Wände. Es war dunkel, daher schuf sie eine Lichtkugel und ließ sie in der Mitte des Raums unter der Decke schweben.
Nachdem sie sich auf einen der Stühle gesetzt hatte, holte sie tief Luft und bereitete sich auf den ersten Patienten vor. Adrea würde einen Gong läuten, wenn jemand kam, der sofort behandelt werden musste. Die Übrigen wurden in den Untersuchungsraum geschickt, wo ein Heiler sie befragte, bevor er sie entweder mit Magie heilte oder mit Medikamenten oder einer kleineren Operation behandelte. Wenn größere Operationen vonnöten waren, baten sie den Patienten, an einem anderen Tag wieder herzukommen.
Es klopfte an der Tür. Sonea zog ein wenig Magie in sich hinein und sandte sie zur Tür, drehte den Knauf und zog sie nach innen auf. Der Mann auf dem Flur wirkte überrascht, als er niemanden hinter der Tür stehen sah, obwohl er das Hospital bereits einige Male zuvor besucht hatte. Als sie ihn erkannte, hob sich ihre Stimmung sofort.
»Steinmetz Berrin«, sagte Sonea. »Kommt herein.«
Als er sie sah, wirkte er erleichtert. Er verneigte sich, schloss die Tür, ging zu dem Stuhl und setzte sich.
»Ich hatte gehofft, dass Ihr hier sein würdet«, erklärte er. Sie nickte. »Wie geht es Euch?«
Der Mann rieb sich die Hände und hielt inne, um nachzudenken, bevor er antwortete: »Ich glaube nicht, dass es funktioniert hat.«
Sonea musterte ihn nachdenklich. Er war vor fast einem Jahr zum ersten Mal ins Hospital gekommen und hatte sich geweigert zu erzählen, was ihm fehlte. Sie hatte etwas Peinliches und Privates vermutet, aber was er dann langsam und widerstrebend enthüllt hatte, war eine Abhängigkeit von Feuel.
Es hatte einigen Mut gekostet, das zuzugeben, das wusste sie. Er war der Typ Mann, der hart arbeitete und sich rühmte, »ehrliche« Arbeit zu tun. Aber als seine Frau bei der Geburt ihres ersten Kindes, das nicht überlebt hatte, gestorben war, war er so voller Trauer und Schuldgefühle gewesen, dass er die Ware eines Feuelverkäufers mit Hingabe gekostet hatte. Als der Schmerz weit genug zurückgegangen war, um seine frühere Arbeit wiederaufzunehmen, hatte er festgestellt, dass er die Droge nicht mehr aufgeben konnte.
Zuerst hatte sie ihn ermutigt, seinen Verbrauch von Feuel zu reduzieren und die Schmerzen, das ständige Verlangen und die Übellaunigkeit, die damit einhergingen, schlicht mannhaft zu ertragen. Er hatte sich gut gemacht, aber es hatte ihn erschöpft. Und sein Verlangen nach dem betäubenden, befreienden Gefühl des Feuel hatte dadurch nicht im Mindesten nachgelassen. Schließlich, nach etlichen Monaten, hatte Sonea Mitleid mit ihm und beschloss zu sehen, ob Magie den Prozess beschleunigen könnte.
Alle Heiler waren übereingekommen, dass die Abhängigkeit von Feuel keine Krankheit sei; daher galt die Benutzung von Magie zur Heilung der Sucht als eine Verschwendung des kostbaren Gutes. Sonea hatte ihnen zugestimmt, aber Berrin war ein guter Mann, den man verleitet hatte, als er am verletzlichsten gewesen war. Sie hatte ihn heimlich geheilt.
»Warum denkt Ihr, dass es nicht funktioniert hat?«, fragte sie ihn.
Er senkte den Blick, und seine Augen waren groß vor Kummer. »Ich will es immer noch. Nicht mehr so sehr wie früher. Ich dachte, es würde immer weniger werden. Aber so ist es nicht. Es ist wie… ein tropfender Hahn. Leise, aber wenn man innehält und lauscht, ist es da und nagt an einem.«
Sonea runzelte die Stirn, dann bedeutete sie ihm, näher zu kommen. Er schob den Stuhl neben ihren. Sie beugte sich vor, legte ihm die Hände an die Seiten des Kopfes und schloss die Augen.
Es war eine seltsame Erfahrung gewesen, ihn zu heilen. Es hatte ihm nichts Offenkundiges gefehlt. Kein Bruch, kein Riss und keine Infektion, mit der sein Körper bereits fertig zu werden versuchte. Meistens konnte ein Heiler aus dem Körper ersehen, was nicht stimmte, und sich von ihm bei der Anwendung von Magie zur Behebung des Schadens leiten lassen. Manchmal war das Problem zu unterschwellig, aber wenn man dem Körper erlaubte, Magie zu benutzen, um den Fehler zu bereinigen, funktionierte das fast immer.
In Berrin hatte sie einen Kummer, einen Schmerz gespürt, der an verschiedenen Stellen in ihm wohnte – in den Pfaden seiner Wahrnehmung und in seinem Gehirn. Aber er war so schwer greifbar gewesen, dass sie nicht verstanden hatte, wie sie das Problem beheben sollte. Also hatte sie sich von seinem Körper leiten lassen, und als das Gefühl des Kummers verschwunden war, hatte sie gewusst, dass ihre Arbeit getan war.
Die Schmerzen waren verschwunden, und seine Stimmung hatte sich gebessert. Er hatte jedoch nichts davon erzählt, dass ein schleichendes Verlangen nach Feuel zurückgeblieben war. Aber vielleicht war es anfangs zu gering gewesen, als dass er es wahrgenommen hätte. Oder vielleicht hat er wieder angefangen, es zu inhalieren.
Sonea sandte ihren Geist aus und suchte in seinem Körper nach dem Gefühl des Kummers. Zu ihrer Überraschung fand sie nichts. Sie konzentrierte sich angestrengter und nahm einen natürlichen Heilungsprozess rund um einige Blasen an seinen Händen wahr und einige angespannte Muskeln in seinem Rücken. Aber was seinen Körper betraf, war er gesund und kräftig.