Sie öffnete die Augen und ließ die Hände sinken.
»Euch fehlt nichts«, sagte sie lächelnd. »Ich kann keinen der Hinweise finden, die ich zuvor verspürt habe.«
Er machte ein langes Gesicht und sah sie forschend an. »Aber… ich lüge nicht. Das Verlangen ist immer noch da.«
Sonea runzelte die Stirn. »Das ist… seltsam.« Sie betrachtete seinen festen Blick und bedachte, was sie über ihn wusste. Er ist nicht der Typ, der lügt. Die bloße Vorstellung, jemand könne denken, er würde lügen, bereitet ihm Unbehagen. Tatsächlich ahne ich, wie seine nächste Frage lauten wird…
»Denkt Ihr, ich erfinde es?«, fragte er mit leiser, furchtsamer Stimme.
Sie schüttelte den Kopf. »Aber es ist verwirrend. Und frustrierend. Wie kann ich heilen, was ich nicht wahrnehmen kann?« Sie breitete die Hände aus. »Ich kann nur sagen, gebt der Sache Zeit. Es könnte sein, dass da noch ein Echo des Verlangens ist. Wie die Erinnerung an die Berührung eines Menschen oder an den Klang einer Stimme. Wenn Ihr diese Erinnerung nicht auffrischt, wird Euer Körper sie mit der Zeit vergessen.«
Er nickte, und seine Miene war jetzt nachdenklich. »Das kann ich tun. Das ergibt einen Sinn.« Er richtete sich auf und sah sie erwartungsvoll an.
Sie erhob sich, und er folgte ihrem Beispiel. »Gut. Kommt zurück und sprecht mit mir, falls es schlimmer wird.«
»Vielen Dank.« Er verneigte sich unbeholfen, ging auf die Tür zu, drehte sich noch einmal kurz um und lächelte nervös, als die Tür durch ein Ziehen ihrer Magie aufschwang.
Als die Tür sich hinter ihm schloss, dachte Sonea über das nach, was sie in seinem Körper gefunden – oder eben nicht gefunden – hatte. War es möglich, dass Magie Sucht nicht heilen konnte? Dass Feuel eine Art körperlicher Veränderung bewirkte, die dauerhaft und unaufspürbar war?
Wenn das der Fall ist, kann der Körper eines Magiers dann die Wirkung seiner eigenen Feuelsucht heilen? Der Körper eines Magiers heilte sich selbsttätig; daher waren Magier selten krank und lebten häufig länger als Nichtmagier. Wenn der Körper es nicht heilen kann, dann wäre es möglich, dass auch ein Magier nach der Droge süchtig wird.
Aber gewiss nicht sofort. Viele Novizen hatten Feuel probiert und waren nicht süchtig geworden. Vielleicht waren nur einige Leute anfällig für Sucht. Oder vielleicht sammelte sich das Gift im Körper – es musste sich genug davon anhäufen, bevor dauerhafter Schaden entstand.
So oder so, es konnte sowohl tragische als auch gefährliche Konsequenzen haben. Nach Feuel süchtige Magier konnten von ihren Lieferanten bestochen und beherrscht werden. Und die Lieferanten waren höchstwahrscheinlich Verbrecher oder mit der Unterwelt verbunden.
Plötzlich erinnerte sie sich an Regins Behauptung, dass Novizen und Magier der höchsten Klassen sich heutzutage häufiger mit Kriminellen einließen. Sie hatte geglaubt, die Situation sei nicht schlimmer, als sie es immer gewesen war. Hatte er recht? Und war Feuel der Grund? Ein kalter Schauer überlief sie.
Als es abermals an der Tür klopfte, holte sie tief Luft und schob den Gedanken beiseite. Für den Augenblick galt ihre Sorge den Kranken der unteren Klassen. Mit den törichteren Mitgliedern der Häuser würde die Gilde fertigwerden müssen.
Aber es schadet gewiss nicht festzustellen, ob jemand von den anderen Heilern – oder sogar den Hospitalhelfern – von Magiern gehört hat, die nach Feuel süchtig geworden sind oder in die Welt der Verbrecher hineingezogen wurden. Und es wird nützlich sein, sie auch einige Fragen an ihre Patienten stellen zu lassen. Es gibt nichts, was gelangweilte Patienten und ihre Familien zum Zeitvertreib lieber tun, als zu tratschen.
Lorkin hatte keine Ahnung, wie spät es war, als die Besucher endlich gingen und er und Dannyl frei waren, sich für die Nacht zurückzuziehen. Sobald der letzte Gast das Haus verlassen hatte, sahen sie einander an und verzogen vor Erleichterung das Gesicht.
»Sie sind freundlicher, als ich erwartet habe«, bemerkte Dannyl.
Lorkin nickte zustimmend. »Ich könnte eine Woche lang schlafen.«
»So wie es sich anhört, werden wir uns glücklich schätzen können, wenn wir einen Tag Zeit haben, um uns von der Reise zu erholen. Am besten wir schlafen, solange wir können.« Dannyl wandte sich an eine Sklavin – eine junge Frau, die sich prompt mit dem Gesicht nach unten auf den Boden warf. »Bring Lord Lorkin in seine Zimmer.«
Sie sprang wieder auf, sah Lorkin kurz an und deutete dann auf eine Tür.
Während Lorkin ihr durch einen Gang folgte, sank seine Stimmung ein wenig. Wann immer sie das tun, fühlt es so falsch an. Liegt das nur daran, dass ich weiß, dass sie Sklaven sind? Es verneigen sich auch Leute vor mir, weil ich ein Magier hin, und es macht mir nichts aus. Wo liegt der Unterschied?
Die Leute, die sich vor ihm verneigten, hatten die Wahl. Sie taten es, weil das gute Benehmen es so verlangte. Niemand würde sie auspeitschen oder hinrichten lassen oder was immer die Sachakaner mit ungehorsamen Sklaven machten.
Der Flur bog nach links ab und folgte der merkwürdigen runden Form des Herrenzimmers. Dann teilte er sich, und die Sklavin wählte die rechte Abzweigung. Ich frage mich, warum sie ihre Wände nicht gerade bauen. Ist es leichter, sie so zu konstruieren? Oder schwerer? Ich wette, dadurch entstehen hier und dort seltsame kleine Nischen. Er streckte die Hand aus, um die glatte Wand zu berühren. Es hat einen seltsamen Reiz. Keine scharfen Kanten. Die Sklavin trat abrupt durch eine Tür. Lorkin folgte ihr und blieb in der Mitte eines weiteren, seltsam geformten Raumes stehen.
Er war beinahe, aber nicht ganz rund. Beleuchtet wurde er von kleinen Lampen, die auf im Raum verteilten Ständern ruhten. Die Wände waren mit Stoffbehängen oder in Nischen eingelassenen Schnitzereien geschmückt. Zwischen den Nischen befanden sich Durchgänge. In der Mitte des Raums standen Hocker und lagen große Polster. Seine Reisetruhe stand neben einem der Durchgänge auf dem Boden. Der Raum dahinter wurde ebenfalls durch Lampen erhellt, und er konnte ein Bett erkennen, das zu seiner Erleichterung nicht anders aussah als ein gewöhnliches kyralisches Bett.
Die Sklavin blieb neben einer Wand stehen, den Kopf gesenkt und den Blick zu Boden gerichtet. Wird sie hierbleiben oder gehen? Vielleicht wird sie gehen, sobald ich zu erkennen gegeben habe, dass ich mit den Räumen zufrieden bin.
»Danke«, sagte er. »Es gefällt mir gut.«
Sie tat nichts, sagte nichts. Ihr Gesichtsausdruck – das wenige, was er davon sehen konnte – veränderte sich nicht.
Was wird sie tun, wenn ich ins Schlafzimmer gehe? Er trat an ihr vorbei in die Schlafkammer und betrachtete das Bett. Ja, es sieht definitiv aus wie ein normales Bett. Als er sich umdrehte, sah er, dass sie jetzt an der Wand der Schlafkammer stand, in der gleichen Haltung. Ich habe nicht mal gehört, dass sie mir gefolgt ist.
Er konnte sie wahrscheinlich wegschicken, aber als er den Mund öffnete, um zu sprechen, zögerte er. Ich sollte die Gelegenheit nutzen herauszufinden, wie es zwischen Herren und Sklaven genau zugeht. 1st sie meine persönliche Dienerin, oder haben verschiedene Diener unterschiedliche Aufgaben?
»Nun«, begann er, »wie heißt du?«
»Tyvara«, antwortete sie. Ihre Stimme war unerwartet tief und melodisch.
»Und was ist deine Rolle hier, Tyvara?«
Sie zögerte kurz, dann blickte sie auf und lächelte. So ist es schon besser, dachte er. Aber als er in ihre Augen blickte, sah er, dass das Lächeln nicht bis dorthin reichte. Die Augen verrieten nichts. Sie waren so dunkel, dass er kaum erkennen konnte, wo die Pupillen begannen und die Farbe endete. Ihn überlief ein Gefühl, das nicht ganz ein kalter Schauder war, noch war es wirklich ein Prickeln der Erregung.