»Von Karten und dem Alter der Gebäude«, antwortete Dannyl. »Es gibt keine Gebäude, die älter sind als vierhundert Jahre, und die wenigen Karten, die wir aus der Zeit vor dem Sachakanischen Krieg haben, zeigen einen ganz anderen Straßenplan.«
»Dann solltet Ihr Euch die Ereignisse vor vierhundert Jahren ansehen«, schlussfolgerte der König. »Gab es zu der Zeit irgendeine Schlacht, die in der Stadt ausgefochten wurde? Oder eine Katastrophe wie eine Überschwemmung oder ein Feuer?«
Dannyl nickte. »Die gab es, aber nur wenige Magier glauben, dass sie dramatisch genug war, um die Stadt zu zerstören. Es wurden jedoch viele Unterlagen aus jener Zeit vernichtet.« Er hielt inne und hoffte, dass der König nicht um Einzelheiten bitten würde. Es schien ihm keine gute Idee zu sein, den sachakanischen König daran zu erinnern, dass die meisten Gildemagier keine schwarze Magie erlernten, und die Geschichte von Tagin, dem Verrückten Novizen, war die Geschichte, warum schwarze Magie verbannt worden war.
»Wenn dieses Ereignis bedeutend genug war, um eine Stadt zu zerstören, hätte es auch sämtliche Unterlagen innerhalb der Stadt vernichtet.«
Dannyl nickte. »Aber die Gilde wurde nicht zerstört. Ich habe viele Hinweise auf die Bibliothek gefunden, die dort untergebracht war. Allen Berichten zufolge war sie gut ausgestattet.«
»Vielleicht wurden diese Bücher an einen anderen Ort gebracht.«
Dannyl runzelte die Stirn. Ich schätze, es ist möglich, dass Tagin den Inhalt der Gildebibliothek in den Palast bringen ließ. Er war nur ein Novize, daher musste er Wissenslücken haben, die zu füllen er erpicht war. Ich hatte angenommen, dass die Bücher alle mit Absicht zerstört wurden. Aber wenn sie zerstört wurden, als Tagin starb, dann wäre das gar nicht mehr nötig gewesen.
»Es überrascht mich, dass die kyralische Geschichte so verworren ist. Aber auch wir haben Lücken in unserer Geschichte. Kommt hier herein.« Der König geleitete Dannyl und Achati in einen kleinen, runden Raum. Die Wände und der Boden waren ebenso wie die Decke aus poliertem Stein. Es gab nur einen einzigen Eingang. In der Mitte stand eine etwa hüfthohe Säule.
»Hier hat einst etwas Wichtiges gelegen«, sagte der König und strich mit einer Hand über die flache Oberseite der Säule. »Wir wissen nicht, was es war, aber zwei Dinge wissen wir durchaus: Es war etwas von großer Macht, entweder magischer oder politischer Macht, und die Gilde hat es gestohlen.«
Dannyl sah zuerst den König an, dann wieder die Säule. Der Lagerstein, auf den Lorkin Hinweise gefunden hat? Die Miene des Königs war ernst, und er beobachtete Dannyl genau.
»Ich habe einen Hinweis auf ein Artefakt gefunden, das aus diesem Palast entfernt wurde«, erklärte Dannyl. »Aber vor meinem Eintreffen in Sachaka hatte ich noch nichts darüber gehört. Dieser Hinweis klang so, als sei der Gegenstand von den Gildemagiern gestohlen worden.«
Der König zuckte die Achseln. »Nun, das ist es, was die Palastfolklore behauptet. Unsere Unterlagen besagen nicht mehr, als dass etwas, das man einen ›Lagerstein‹ nannte, von einem Gildemagier gestohlen wurde.« Er trommelte mit beiden Händen auf die Oberseite der Säule. »Nicht lange nach seinem Verschwinden entstand das Ödland. Manche Leute glauben, dass die Entfernung des Talismans eine Art magischen Schutz vom Land genommen hat, der für seine Fruchtbarkeit gesorgt hatte.«
»Nun, das ist eine neue und interessante Idee«, bemerkte Dannyl. Lorkin wird fasziniert sein, dies zu hören. Er scheint überaus interessiert am Ödland und dessen Erschaffung zu sein und möglicherweise auch an dessen Wiederherstellung. »Man hat mir erzählt, es seien Versuche unternommen worden, das Ödland in seinen früheren Zustand zurückzuversetzen, dass diese Versuche jedoch erfolglos gewesen seien.«
Der König zog die Augenbrauen hoch. »Oh ja. Viele haben es versucht; alle sind gescheitert. Selbst wenn wir wüssten, wie wir den Schutz, der entfernt wurde, wieder aufbauen könnten, vermute ich, dass es eine zu große Aufgabe für einige wenige Magier wäre. Es würde Tausender bedürfen.« Er lächelte schief. »Und Sachaka stehen nicht länger Tausende von Magiern zur Verfügung – und selbst die zu einen, die wir haben, wäre wie der Versuch, den Aufgang der Sonne zu verhindern oder das Steigen des Meeres bei Flut.«
Dannyl nickte. »Aber es gab nur einen einzigen Talisman, nicht wahr? Manchmal bedarf es nur eines einzigen Mannes und ein klein wenig Wissens, um große Dinge zu tun.«
Wieder lächelte der König. »Ja. Und manchmal bedarf es eines einzigen Mannes und ein wenig Wissens, um großen Schaden anzurichten.« Er trat von der Säule zurück und deutete auf die Tür. »Ihr scheint mir nicht diese Art von Mann zu sein, Botschafter Dannyl.«
»Ich bin froh, dass Ihr das so seht«, erwiderte Dannyl.
Der König lachte leise. »Genauso wenig wie ich. Kommt, es wird Zeit, dass ich Euch die Bibliothek zeige.«
Von ihrem Platz hoch oben an der Frontseite der Gildehalle beobachtete Sonea, wie sich der Raum mit Magiern füllte. Einige Fleckchen aus Purpur, Rot und Grün hatten sich gebildet, was ein jüngeres Phänomen war. Magier aus den Häusern neigten dazu, bei Familienmitgliedern und Verbündeten zu sitzen, statt bei Mitgliedern ihrer eigenen Disziplin, und das führte zu einer Mischung von Robenfarben. Aber Magier von außerhalb der Häuser neigten dazu, Freundschaften mit Vertretern derselben Disziplin zu schließen, und das Ergebnis war eine Ansammlung der gleichen Robenfarbe im Publikum.
Als die letzten Nachzügler ihre Plätze einnahmen, holte sie tief Luft und stieß den Atem langsam wieder aus. Wie werden sie abstimmen? Werden sie aus der Furcht heraus handeln, dass die »ProIiis« gegen die Regeln der Gilde rebellieren könnten, falls sie zu streng sein sollten? Werden sie aus der Furcht heraus handeln, dass kriminelle Gruppen zu viel Einfluss auf Magier gewinnen könnten? Oder werden sie die Regel abschaffen wollen, damit sie sich in Freudenhäusern und anderen Lokalen tummeln können, die von Dieben betrieben werden, ohne Strafe befürchten zu müssen? Oder um weiterhin von ihren illegalen Unternehmungen zu profitieren, und das mit einer geringeren Gefahr, entdeckt zu werden?
Ein Gong erklang. Als Sonea hinabblickte, sah sie Osen zu seinem Platz im vorderen Teil der Halle gehen. Das Stimmengewirr verebbte sofort, und als es ganz still geworden war, erklang die Stimme des Administrators.
»Heute haben wir uns versammelt, um zu entscheiden, ob die von Lord Pendel und anderen vorgetragene Bitte gewährt werden soll oder nicht. Es geht darum, eine Regel abzuschaffen, die besagt: ›Kein Magier oder Novize darf Verbindung zu Kriminellen und Personen von unzuträglicher Art pflegen. ‹ Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass dies eine Entscheidung ist, die von allen Magiern getroffen werden sollte, und zwar durch Abstimmung. Ich bitte jetzt darum, dass die Seite, die für die Abschaffung der Regel ist, ihre Position und ihre Argumente zusammenfasst.«
Lord Pendel hatte am Rand des Raums gestanden und trat nun vor. Er wandte sich der Mehrheit der Magier zu und begann zu sprechen.
Sonea hörte genau zu. Es war nicht leicht gewesen, ihn dazu zu überreden, der Gilde einen Kompromiss anzubieten, und nicht einmal jetzt war sie sich ganz sicher, ob er es tun würde. Er begann mit Hinweisen darauf, wo die Regel versagt hatte oder ungerecht angewandt worden war. Dann griff er die Argumente jener an, die gegen eine Abschaffung der Regel waren. Anschließend entwarf er als Schlussfolgerung das Bild einer Gilde, in der mehr innere Einheit herrschte, als es jetzt der Fall war. Sonea runzelte die Stirn.
Er wird seine Ansprache beenden, ohne auch nur einen Hinweis darauf zu geben, dass ein Kompromiss möglich sein könnte.
»Wenn es eine Regel geben soll, die Magier und Novizen daran hindert, sich auf kriminelle Unternehmungen einzulassen – und ich denke tatsächlich, dass es eine solche Regel geben sollte –, dann sollte sie zu diesem Zweck formuliert sein. Die von mir beschriebenen Fälle machen klar, dass die bestehende Regel für diesen Zweck ungeeignet ist. Sie ist unwirksam und sollte abgeschafft werden.«