»Setzt Euch«, lud Tyvara ihn ein und deutete auf einen Hocker neben dem Tisch. Während er Platz nahm, setzte sie sich auf die Kante eines anderen Hockers. »Ich würde Euch ja mit allen bekannt machen, aber es ist immer sicherer, es zu vermeiden, Namen auszutauschen. Ich kann Euch sagen, dass Ihr bei diesen Frauen sicher seid.«
Lorkin nickte ihnen höflich zu. »Dann danke ich Euch für Eure Hilfe.«
Die vier sagten nichts, aber sie hatten die Augenbrauen hochgezogen und tauschten einige schnelle Blicke.
»Wir sind eine Gruppe, die sich die Verräterinnen nennt«, erklärte Tyvara. »Vor einigen hundert Jahren, nachdem die Kyralier Sachaka erobert hatten, taten sich freie Frauen mit Sklavinnen zusammen und entkamen an einen entlegenen, verborgenen Ort. Dort bauten sie ein Zuhause auf, in dem niemand Sklave war und alle einander ebenbürtig.«
Lorkin runzelte die Stirn. »Eine Gesellschaft, die ausschließlich aus Frauen besteht? Aber wie –«
»Nicht ausschließlich aus Frauen.« Tyvara lächelte. »Es gibt dort auch Männer. Aber sie führen nicht über alles das Kommando, wie es überall sonst auf der Welt der Fall ist.«
Wie faszinierend. Lorkin musterte Tyvara eingehend. Natürlich. Es ist nicht nur so, dass sie als freie Frau geboren wurde. Sie ist es gewohnt, das Sagen zu haben. Dann wurde ihm etwas anderes klar. Sie hatte ihn immer an jemanden erinnert, und jetzt wusste er, wer es war. Meine Mutter! Bei diesem Gedanken wurde ihm flau im Magen. Das wäre vielleicht kein guter Gedanke, der mir in den Sinn kommen könnte, sollten wir jemals… nein, denk nicht darüber nach.
»Irgendwelche Fragen?«, wollte sie wissen.
»Warum nennt Ihr Euch ›die Verräterinnen‹?«
»Anscheinend wurden wir nach einer sachakanischen Prinzessin benannt, die von ihrem Vater dafür getötet wurde, dass einer seiner Verbündeten sie vergewaltigt hatte. Er nannte sie eine Verräterin, und aus Mitgefühl begannen Frauen jener Zeit, sich ebenfalls so zu nennen.«
Lorkin dachte daran, was die sterbende Sklavin gesagt hatte. Hatte sie »Verräterin« gemeint? Nein, das ergab keinen Sinn. Aber wenn Riva gewusst hatte, dass Tyvara eine Spionin war…
»Wusste Riva, dass Ihr eine Verräterin seid?«
»Ja.«
»Warum hat sie gesagt, Ihr wärt eine Verräterin an Eurem Volk?«
Tyvaras Mundwinkel hoben sich zu einem schiefen Lächeln. »Sie meinte das sachakanische Volk. Ich fürchte, die Tatsache, dass wir weder dem Herrscher noch dem Gesetz folgen und die Gewohnheit haben, uns in die sachakanische Politik einzumischen, bedeutet, dass die meisten Sachakaner uns für Verräter halten.«
»Wie verhindert Ihr, dass sachakanische Magier Euch alle finden? Gewiss brauchten sie nur Eure Gedanken zu lesen?«
»Wir haben eine Möglichkeit, unsere Gedanken vor ihnen verborgen zu halten. Sie werden nur sehen, was wir sie sehen lassen wollen. Es bedeutet, dass wir Leute in den Häusern mächtiger Ashaki überall im Land haben können.«
Lorkins Herz setzte einen Schlag aus. Magie, von der ich noch nie gehört habe!
»Könnt Ihr mir erzählen, wie Ihr das macht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir Verräterinnen geben unsere Geheimnisse nicht gern preis.«
Er nickte. Irgendetwas, das den Geist davor bewahrt, entblößt zu werden – ganz ähnlich, wie Blutsteine verhindern, dass Gedankenrede zwischen Magiern von anderen Magiern belauscht werden kann.
»Funktioniert es wie ein Blutsteinring?«, fragte er.
Eine der anderen Frauen lachte. Sie sah ihm kurz in die Augen, dann blickte sie Tyvara an. »Der junge Mann ist klug. Du wirst genau aufpassen müssen, was du sagst.«
Tyvara schnaubte leise. »Ich weiß.« Dann verebbte ihre Erheiterung. Seufzend wandte sie sich wieder an Lorkin. »Wir müssen von hier fortgehen. Das Gildehaus ist zu nah, und einige der Sklaven dort wussten, dass ich Verbindungen hierher habe. Ihr werdet diese hübschen Kleider hergeben und Euch als Sklave tarnen müssen. Könnt Ihr das tun?«
Lorkin blickte auf seine Roben hinab und unterdrückte ein Seufzen. »Wenn es sein muss.«
»Sein Gesicht ist zu blass«, bemerkte eine der jüngeren Sklavinnen. »Wir werden es färben müssen.«
Eine ältere Sklavin musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Er ist ziemlich mager für einen Sachakaner. Aber das ist besser als zu fett. Man findet nicht viele fette Sklaven.« Sie erhob sich. »Ich werde einige Kleider holen.«
»Ihr braucht auch einen Sklavennamen«, erklärte Tyvara. »Wie wäre es mit Ork? Das kommt Eurem wahren Namen so nah, dass die Leute es vielleicht nicht bemerken werden, falls ich Euch versehentlich Lorkin nennen sollte.«
»Ork«, wiederholte Lorkin achselzuckend. Klingt wie ein Ungeheuer. Meine Freunde zu Hause würden das sehr komisch finden. Dann durchzuckte ihn ein Stich des Kummers. Sie werden sich Sorgen um mich machen, wenn sie erfahren, dass ich verschwunden bin. Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit – abgesehen davon, mich durch den Blutring mit Mutter in Verbindung zu setzen –, wie ich sie wissen lassen könnte, dass es mir gut geht. Er verzog das Gesicht. Nun, dass ich zumindest noch am Leben bin.
Die ältere Sklavin hatte ein langes, rechteckiges Tuch von einem Ständer gezogen, an dem mehrere solcher Tücher hingen. Mit dem Tuch und einem Seil kam sie auf ihn zu. Die Frauen feixten, während er sein Übergewand ablegte. Er wickelte den Stoff um seinen Körper und gürtete ihn wie geheißen mit dem Seil, dann zog er seine Hose aus. Er war froh, dass er den Blutring seiner Mutter im Rücken seines Notizbuchs versteckt hatte. Es wäre schwierig gewesen, ihn unbemerkt aus seinen Roben zu klauben.
»Das könnt Ihr nicht mitnehmen«, sagte Tyvara, als sie das Notizbuch bemerkte.
Lorkin blickte auf das Buch hinab. »Kann man es ins Gildehaus zurückschicken?«
Die Sklavinnen schüttelten den Kopf. »Das lässt sich kaum machen, ohne dass irgendjemand erfährt, dass es von dir gekommen ist«, erklärte eine der Frauen.
»Es muss zerstört werden«, beschloss Tyvara und streckte die Hand danach aus.
»Nein!« Lorkin riss es an sich. »Darin habe ich all meine Forschungsergebnisse notiert.«
»Was kein Sklave bei sich tragen würde.«
»Ich werde es versteckt halten«, erwiderte er. Er stopfte es in den Ausschnitt seines provisorischen Kittels.
»Und wenn ein Ashaki Eure Gedanken liest, wird er erfahren, dass Ihr es dort versteckt.«
»Wenn ein Ashaki seine Gedanken liest, wird er erfahren, dass er kein Sklave ist«, bemerkte eine der älteren Frauen grinsend. »Lass ihn sein Buch behalten.«
Tyvara runzelte die Stirn, dann seufzte sie. »Also schön. Haben wir irgendwelche Schuhe?«
Eine der anderen Frauen holte ein Paar schlichter Lederschuhe, die aus nicht viel mehr bestanden als einem Stück Leder, das zu einem fußförmigen Beutel vernäht war. Den Beutel band man dann mit einem anderen, dünneren Seil am Knöchel fest. Tyvara nickte anerkennend.
»Wir haben es fast geschafft. Während unsere Freundinnen hier die Farbe für Eure Haut zubereiten, sollte ich Euch besser erklären, welches Benehmen man von einem Sklaven erwartet«, sagte Tyvara. »Ich vermutete, das wird für Euch der schwierigste Teil werden. Wie überzeugend Ihr seid, könnte den Unterschied zwischen Überleben und Tod ausmachen.«
»Das werde ich im Kopf behalten«, erwiderte er. »Es ist etwas, was ich wohl kaum vergessen werde.«
Sie lächelte grimmig. »Man kann es sehr leicht vergessen, wenn man ausgepeitscht wird, nur weil jemand einen schlechten Tag hatte. Glaubt mir. Ich weiß es.«
Während Sonea den Flur des Magierquartiers hinunterging, gähnte sie. Die Sonne war bei ihrer Rückkehr über den Hügel hinter der Gilde gekrochen und hatte einen bleichen Schimmer über den Himmel geworfen. Jetzt hatte sie sich hinter die Stadt zurückgezogen und alles der Dunkelheit, dem Lampenlicht oder, für einige wenige Glückliche, magischer Beleuchtung überlassen.