Die Nachtschichten im Hospital waren die unbeliebtesten, daher übernahm sie sie, wann immer sie es einrichten konnte. Trotz der späten Stunde waren viele Patienten da gewesen – wobei einige der Heiler scherzhaft meinten, dass die nächtlichen Patienten die interessantesten seien. Sie hatte gewiss während dieser Schichten einige einzigartige Verletzungen behandelt. Sie argwöhnte, dass erheblich mehr nächtliche Besucher als jene, die gezwungen waren, aufgrund der Natur ihrer Erkrankung oder Verletzung ihr Gewerbe zuzugeben, in Geschäfte verstrickt waren, die die meisten Gildemagier und ihre Familien entsetzt hätten.
Cerys Neuigkeiten waren ihr viele Male durch den Kopf gegangen. Sie hatte unvernünftigerweise ein schlechtes Gewissen, weil sie sich nicht bereit erklärt hatte, ihm bei der Suche nach der wilden Magierin zu helfen. Aber sie konnte nicht erkennen, wie sie das insgeheim hätte tun sollen, was ihr das Misstrauen und die Missbilligung der Gilde eingetragen hätte. Und das wiederum würde die Hospitäler gefährden.
Trotzdem ging sie nicht direkt zu Administrator Osen, als sie in der Gilde ankam. Stattdessen beschloss sie, darüber zu schlafen, wie Cery es vorgeschlagen hatte. Und jetzt, da sie wach war und der Schlaf ihr keine Gewissheit gebracht hatte, hatte sie sich vorgenommen, mit Rothen darüber zu sprechen. Er war schließlich derjenige gewesen, der damals, als sie selbst eine wilde Magierin gewesen war und sich vor der Gilde versteckt hatte, nach ihr gesucht und sie gefunden hatte.
An seiner Tür angekommen, klopfte sie. Eine vertraute Stimme antwortete ihr von der anderen Seite. Die Tür wurde geöffnet, und Rothen lächelte, als er sie sah.
»Sonea. Komm herein.« Er zog die Tür weiter auf und ließ sie eintreten. »Setz dich. Möchtest du etwas Raka?«
Sie ließ ihren Blick durch das Gästezimmer wandern, dann drehte sie sich wieder zu ihm um. »Cery war gestern Nacht bei mir. Er hat eine neue wilde Magierin in der Stadt entdeckt. Eine Frau, die volle Kontrolle über ihre Kräfte hat. Ich kann mich natürlich nicht selbst darum kümmern, aber… denkt Ihr, die Gilde wird es diesmal wieder vermasseln?«
Rothen sah sie überrascht an, dann blickte er über ihre Schulter.
»Ich wäre bereit, das Vermögen meiner Familie darauf zu verwetten, dass sie es genauso vermasseln werden wie beim letzten Mal«, erklang eine vertraute Stimme.
Soneas Schultern sackten herunter. Sie setzte eine ernste Miene auf und drehte sich um. Ein Mann trat aus dem Raum, der einst ihr Schlafzimmer gewesen war, und in der Hand hielt er eins der vielen Bücher, die Rothen jetzt dort aufbewahrte.
»Regin und ich haben über einige Schwierigkeiten unter den Novizen gesprochen«, sagte Rothen mit einem entschuldigenden Unterton in der Stimme.
Sonea musterte Regin. Verflucht soll er sein. Das bedeutet, dass ich es sofort den Höheren Magiern werde berichten müssen. Hoffentlich werden sie mir verzeihen, dass ich zuerst Rothen um Rat gefragt habe.
»Noch mehr Schwierigkeiten?«, fragte sie ihn.
»Oh, irgendeine Art von Schwierigkeiten gibt es immer«, antwortete Regin achselzuckend.
»Was diese wilde Magierin betrifft… Ich stimme Regin zu«, bemerkte Rothen. »Obwohl ich nicht ganz so pessimistisch sein würde wie er. Der Hohe Lord Balkan und Administrator Osen würden in ihrer Suche subtilere Methoden anwenden, aber sie haben nicht die Einblicke, die Erfahrung und die Möglichkeiten, die wir beide haben.«
Sonea drehte sich wieder zu ihm um. »Wie kann ich nach einer wilden Magierin suchen, wenn ich mich nicht ohne Erlaubnis in der Stadt bewegen darf?«
Rothen lächelte. »Bitte nicht um Erlaubnis.«
»Aber wenn sie herausfinden, dass ich in der Stadt umhergeschlichen bin oder es versäumt habe, dies den Höheren Magiern zu melden, oder sogar mit einem Dieb gesprochen habe, wird es die Meinung all jener Leute bestätigen, die sagen, man könne mir nicht trauen.«
»Und wenn Ihr eine wilde Magierin aufspürt, werden die Leute, die zählen, das übersehen«, meldete Regin sich zu Wort.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich werde auf keinen Fall die Hospitäler gefährden, damit ich etwas tun kann, das andere ebenso gut tun könnten.«
»Lady Vinara und die Heiler würden niemals irgendjemanden in die Nähe der Hospitäler lassen«, versicherte ihr Regin.
»Aber sie könnten mich daran hindern, dort zu arbeiten«, konterte Sonea.
»Das bezweifle ich. Selbst Eure Kritiker mussten zustimmen, dass das eine Vergeudung Eurer Talente wäre.«
Sie sah Regin einen Moment lang an, dann wandte sie den Blick ab. Er war viel zu entgegenkommend. Das machte sie argwöhnisch. Drängte er sie, heimlich nach der wilden Magierin zu suchen, um ihr Verhalten später aufzudecken? Es würde ihm nichts einbringen bis auf eine schäbige Befriedigung über meinen Niedergang.
»Wenn die Zeit kommt, unsere Methoden zu offenbaren, werde ich allen sagen, dass ich dich beraten und dir geholfen habe«, erklärte Rothen. Dann sah er Regin an. »Ich bin davon überzeugt, Regin wird mit Freuden das Gleiche tun.«
»Natürlich. Ich werde es aufschreiben und unterzeichnen, wenn Ihr das wünscht.« In Regins Stimme schwang ein leicht sarkastischer Unterton mit. Er weiß, dass ich ihm immer noch nicht traue, dachte sie und verspürte ein unerwartetes Gefühl der Schuld. Wenn sie früher mit ihm zusammengearbeitet hatte, hatte er keine Spur von Unehrlichkeit gezeigt oder den Drang, sie irgendwie zu manipulieren.
»Die Leute werden dir auch weiterhin Einschränkungen auferlegen, solange du es ihnen gestattest«, erklärte Rothen. »Du hast ihnen während der letzten zwanzig Jahre keinen Grund gegeben, dir zu misstrauen. Es ist –«
»Genau«, unterbrach ihn Regin. »Ich sehe Kallen nicht um Erlaubnis fragen, um in der Stadt umherzustreifen, ebenso wenig wie ich Euch dabei sehe, dass Ihr Eure Lakaien ausschickt, damit sie jede seiner Bewegungen beobachten.«
»Das liegt daran, dass ich keine Lakaien habe«, entgegnete Sonea. »Oder die Zeit, es selbst zu tun.«
»Aber wenn Ihr das eine oder das andere hättet, würdet Ihr es tun?«, fragte Regin.
Sie sah ihn mit schmalen Augen an. »Wahrscheinlich.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Ihr haltet ihn für gefährlich?«
»Nein.« Stirnrunzelnd blickte sie zum Fenster. »Nicht für gefährlich. Aber eines Tages könnte seine… seine Gründlichkeit mehr Schaden als Nutzen stiften.«
»Wie zum Beispiel jetzt«, sagte Rothen. »Er hat dich zu gut unter Kontrolle, als dass du tun würdest, wozu du die geeignetste Person wärst: diese wilde Magierin zu finden und sie in die Gilde zu bringen.«
Sie starrte zum Fenster hinaus. Direkt dahinter lag die Universität und dahinter die Stadt und in ihr eine Frau, die Magie benutzte – wahrscheinlich, um damit zu töten. »Es wird nicht so sein wie früher. Cery sagte, sie sei älter, daher hat sie vielleicht schon viele Jahre lang Magie benutzt. Und er vermutet, dass sie der Jäger der Diebe ist.«
»Dann ist es noch wichtiger, sie schnell zu finden«, bemerkte Regin. »Bevor sie nicht nur Verbrecher tötet, sondern jeden, der ihr in die Quere kommt.«
Sonea dachte an Cerys Familie und schauderte. Sie könnte es bereits getan haben. Sie wandte sich vom Fenster ab und blickte von Regin zu Rothen. »Aber wenn ich den mir auferlegten Einschränkungen offen trotze, werde ich Aufmerksamkeit erregen und Tadel auf mich ziehen, bevor wir sie finden können.«
Rothen lächelte. »Sobald du etwas entdeckt hast, schick an uns beide eine Nachricht. Einer von uns kann der Sache dann auf den Grund gehen, wenn du dich nicht davonstehlen kannst, um es selbst zu tun.«
Sonea sah Regin an, der nickte. Sie spürte, wie die Anspannung von ihr abfiel. Es war ein Kompromiss, aber kein perfekter Kompromiss. Es könnte immer noch Missbilligung erregen, wenn sie die Angelegenheit nicht den Höheren Magiern unterbreitete, aber zumindest würde sie das Risiko vermeiden, dass sie es, wenn sie sich selbst auf die Suche nach der Frau machten, vermasseln würden. Sowohl Cery als auch die Hospitäler würden sicher sein.