»Nein«, antwortete der Sklavenmeister. »Zu gefährlich. Wenn sie das sind, was du behauptest, kann nur der Herr mit ihnen fertig werden, und er ist in der Stadt.«
Die Frau sah aus, als wolle sie Einwände erheben, doch stattdessen nickte sie nur steif und verließ das Lager. Der Sklavenmeister sah sich abermals im Raum um. Einen Moment lang machte er den Eindruck, als würde er ihn vielleicht durchsuchen, aber dann schüttelte er den Kopf und ging zur Tür.
Sobald er fort war, verspürte Lorkin abermals die Brise. Tyvara packte ihn am Arm und zog ihn durch die Tür in eine Lücke zwischen zwei Gebäuden. Sie hielt seine Arme mit starkem Griff umfasst. Ihm wurde flau, als sie sich plötzlich in die Luft erhoben.
Levitation, dachte er und blickte hinab, wo die unsichtbare Kraft unter ihren Füßen sein musste. Ich hatte jahrelang keinen Grund mehr, das zu tun.
Sie traten auf das Dach des Lagers. Tyvara hockte sich hin und begann, langsam und leise über das Dach zu kriechen, wobei sie sich dicht unter dem First hielt, damit die Leute im Innenhof sie nicht sehen konnten. Lorkin folgte ihr und zuckte bei jedem Knarren der hölzernen Ziegel zusammen. Die Sklavenschuhe waren viel leiser als Magierstiefel und griffen überraschend gut auf den Dachziegeln.
Am Ende des Lagerdachs kletterten sie zum Nachbargebäude hinunter, dann weiter zum nächsten und schließlich zu einem, das im Schatten eines großen Schornsteins ein gutes Versteck bot. Von unten kam ein lautes Knirschen, das sämtliche Geräusche, die sie machten, überdecken würde.
Vielleicht kann ich ihr jetzt einige Fragen stellen.
»Wenn es richtig dunkel ist, werden wir zur Straße zurückkehren«, eröffnete ihm Tyvara.
»Und wenn wir jemandem begegnen?«
»Niemand wird uns allzu genau ansehen. Sklaven auf der Straße sind nichts Ungewöhnliches, nicht einmal bei Nacht. Aber wenn wir querfeldein gehen, werden wir zu Eindringlingen. Obwohl die Feldsklaven sich uns nicht nähern werden, werden sie uns ihrem Herrn melden. Selbst wenn wir wegkommen, bevor er Nachforschungen anstellt, wird jeder, der auf solche Berichte achtet, wissen, in welche Richtung wir uns bewegen.« Sie seufzte. »Ich hatte gehofft, weiter von der Stadt wegzukommen, bevor dies geschieht.«
»Du hast damit gerechnet?«
»Ja.«
»Sind deine Kontaktpersonen hier sicher?« »Ja.«
»Also… sie sind hier, aber das Gleiche gilt für die Leute, die versucht haben, mich zu töten?«
»Ja.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber… es ist noch komplizierter.«
Er sah sie erwartungsvoll an, doch sie sagte nichts mehr, sondern starrte nur über die Felder hinweg. Sie will offensichtlich nicht darüber reden. Aber sie kann nicht andeuten, dass mehr dahintersteckt als das, was sie mir erzählt hat, ohne damit zu rechnen, dass ich nachhake.
»Warum ist es komplizierter?«, fragte er. Dann runzelte er überrascht die Stirn. Seine Stimme hatte härter geklungen als beabsichtigt.
Sie musterte ihn, und ihre Augen waren in der wachsenden Dunkelheit kaum sichtbar.
»Ich sollte nicht… aber ich schätze, es hat keinen Sinn, es noch länger geheim zu halten.« Sie holte tief Luft, dann stieß sie den Atem wieder aus. »Wir können jetzt keinen Sklaven mehr vertrauen, nicht einmal jenen, die Verräterinnen sind. Wir Verräterinnen… wir sind nicht immer der gleichen Meinung. Aufgrund sehr unterschiedlicher Meinungen zu einigen Fragen haben sich bei uns bestimmte Gruppen gebildet.«
»Parteien?«, fragte er nach.
»Ja, ich nehme an, so könnte man sie nennen. Die Partei, zu der ich gehöre, glaubt, dass du ein potenzieller Verbündeter seist und nicht getötet werden solltest. Die andere… glaubt das nicht.«
Lorkin schnappte nach Luft. Ihre Leute wollen mich tot sehen! Ein flaues Gefühl stieg in ihm auf, aber er schob es beiseite. Nein, nur einige von ihnen wollen das. Tyvara ist ein guter Mensch…
»Meine Partei hat mehr Einfluss auf unsere Leute«, erklärte sie ihm. »Wir sagen, dass deine Ermordung zu einem Krieg zwischen Sachaka und Kyralia führen könnte. Dass wir nur dann töten sollten, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Dass es die Denkweise der Sachakaner ist, ein Kind für die Taten der Eltern verantwortlich zu machen, nicht unsere. Aber…«
Sie hielt inne, und als sie weitersprach, senkte sie die Stimme. »Aber ich habe etwas getan, das das Machtverhältnis verändert haben könnte.« Sie holte erneut tief Luft, und diesmal zitterte ihr Atem ein wenig. »Die Frau, die ich getötet habe, um Euch zu retten – Riva –, war keine Auftragsmörderin, die von einer sachakanischen Familie geschickt worden war. Sie war eine Verräterin. Eine von der anderen Partei.«
»Du hast gelogen«, stellte Lorkin fest. »Ja. Andernfalls wärst du nicht mit mir gekommen, und dann wärst du inzwischen wahrscheinlich tot.«
Lorkin legte die Stirn in Falten. Welche anderen Lügen hatte sie ihm noch erzählt? Aber wenn alles andere, was sie sagte, der Wahrheit entsprach, vor allem in Bezug auf die Verräterinnen, verstand er die Täuschung. Ich wäre nicht mit ihr fortgegangen. Ich wäre zu verwirrt gewesen.
»Wenn meine Leute erfahren, dass ich sie getötet habe, wird die andere Partei an Unterstützung gewinnen«, fuhr Tyvara fort. »Und nach den Ereignissen hier zu urteilen, würde ich sagen, dass die Neuigkeit uns eindeutig überholt hat. Niemand von der anderen Partei wird uns helfen. Sie könnten versuchen, dich zu töten. Sie könnten versuchen, uns beide zu töten.«
»Und die Verräterinnen von deiner Partei?«
»Sie werden sich nicht sicher sein, was sie tun sollen. Sie werden nicht versuchen, uns zu töten, aber sie werden uns vielleicht auch nicht helfen, falls sie sich damit der Unterstützung einer Mörderin schuldig machen. Irgendwann werden die Nachrichten das Sanktuarium erreichen, und unsere Anführerinnen werden alle Befehle aufheben, die die Führungsleute der Kundschafter ausgegeben haben. Dann wird es offizielle Befehle von höchster Stelle geben.«
Lorkin schwirrte der Kopf von all diesen neuen Informationen. Überall in Sachaka gab es Leute – eine ganze Gesellschaft –, die darüber befanden, ob er getötet werden sollte oder nicht. Er schüttelte sich. Und was meinte sie mit »ein Kind für die Taten der Eltern verantwortlich machen«? Was haben meine Eltern getan, um sie so sehr in Wut zu versetzen? Er hatte zu viele Fragen, und sie konnten jeden Augenblick entdeckt werden. Am besten, er beschränkte sich auf die unmittelbareren. Wie zum Beispiel die Frage, welche Gefahr ihm von diesen Verräterinnen drohte.
»Also, wenn deine Partei die Oberhand hatte, warum hat Riva dann versucht, mich zu töten?«
Tyvara stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Sie hat ihre Befehle nicht befolgt. Sie hat mir nicht gehorcht.«
»Und niemand weiß das, daher denken sie, du hättest sie ermordet?«
Eine Pause folgte. »Ja, aber selbst wenn sie den Grund erfahren, warum ich sie getötet habe… Verräterinnen töten keine Verräterinnen. Es ist ein weit schwerwiegenderes Verbrechen als Befehlsverweigerung. Selbst meine eigene Partei wird mich dafür bestrafen wollen.«
»Sie werden dich töten?«
»Ich… ich weiß es nicht.« Sie klang so unsicher, so verängstigt, dass er plötzlich dem Drang widerstehen musste, die Arme um sie zu legen und ihr zu versichern, dass alles gut gehen würde. Aber die Worte wären eine Lüge gewesen. Er hatte keine Ahnung, was geschehen würde, wohin sie gehen sollten oder auch nur, wo er war. Sie hatte ihn von allem fortgeholt, was er verstand. Dies war ihre Welt. Sie war diejenige, die sich auskannte. Ob es ihm gefiel oder nicht, sie musste das Kommando führen.
»Wenn uns irgendjemand da rausbringen kann, dann bist du es«, erklärte er. »Also, was sollen wir jetzt tun? Nach Arvice zurückkehren? Nach Kyralia gehen?«
»Wir können weder das eine noch das andere tun. Wir haben fast in jedem Haushalt in Sachaka Verräterinnen. Jetzt, da meine Leute wissen, was ich getan habe, werden Verräterinnen den Pass im Auge behalten.« Er hörte das leise Geräusch von Fingern, die auf irgendetwas trommelten. »Wir können nicht weglaufen. Was wir tun müssen, ist Folgendes: Wir müssen zu meinen Leuten gehen – zu meiner Partei. Wir werden eine Chance haben, unser Verhalten zu erklären, und du wirst in Sicherheit sein. Ganz gleich was mit mir geschieht, sie werden dich beschützen.« Sie lachte leise. »Ich brauche dich nur sicher durch den größten Teil Sachakas und in die Berge zu bringen, ohne dass die andere Partei uns findet. Oder irgendwelche Kyralier und Sachakaner, die gewiss nach dir suchen.« »Die Berge, hm?«