»Schwarzmagierin Sonea«, sagte er. »Ich muss mit Euch sprechen.«
»Es ist ein Glück, dass wir dich noch erwischt haben, bevor du zu den Hospitälern aufbrichst.« Als sie sich umdrehte, sah sie Rothen hinter dem Administrator stehen. Sofort wurde ihr flau im Magen, und ihr Herz begann zu rasen. Da ist wieder dieser Blick. Lorkin ist etwas zugestoßen…
»Kommt herein«, erwiderte sie, trat zurück und bedeutete ihnen ungeduldig, ihr zu folgen.
Osen kam herein, gefolgt von Rothen. Sie schloss die Tür und sah den Administrator erwartungsvoll an. Er betrachtete sie ernst.
»Ich muss Euch davon in Kenntnis setzen, dass Euer Sohn…« Osen hielt inne und runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher, wie ich es formulieren soll. Es scheint, dass Lorkin entführt wurde.«
Soneas Beine verloren alle Kraft, und sie spürte, dass sie ein wenig schwankte. Rothen machte einen Schritt auf sie zu, aber sie bedeutete ihm, stehen zu bleiben. Sie holte tief Luft und wandte sich erneut Osen zu.
»Entführt?«, wiederholte sie.
»Ja. Von einer jungen Frau, die sich als Sklavin ausgegeben hat. Botschafter Dannyl glaubt, es bestehe eine gewisse Chance, dass Euer Sohn freiwillig mitgegangen ist, aber er sei sich nicht sicher.«
»Ah.« Eine verräterische und verführerische Erleichterung durchlief Sonea. Frauen. Wieso sind es bei Lorkin immer Frauen? Ihr Herzschlag verfiel wieder in einen ruhigeren Rhythmus. »Dies ist also eher eine Frage von gesellschaftlicher Ungehörigkeit als eine, bei der es um seinen bevorstehenden und gewissen Tod geht?«
»Wir hoffen es sehr. Aber es ist komplizierter. Anscheinend sind wir nicht das einzige Volk mit einer geheimen und nicht ganz gesetzmäßigen Untergrundgesellschaft, und diese Leute könnten damit zu tun haben.«
»Verbrecher?«
Osen schüttelte den Kopf. »Botschafter Dannyl hat sie als Rebellen beschrieben. Sie nennen sich die Verräterinnen. Es geht das Gerücht, dass es sich ausschließlich um Frauen handelt.« Osen zog die Augenbrauen hoch und deutete damit an, dass er dies für unwahrscheinlich hielt. »Sie sind außerdem Magierinnen – Schwarzmagierinnen. Die Frau, die Lorkin entführt hat, ist eindeutig eine. Sie hat in derselben Nacht eine andere Sklavin getötet und ihr alle Macht genommen. Dannyl ist sich nicht sicher, ob die Entführerin die Verräterin ist und die Sklavin ihr lediglich in die Quere kam oder ob die tote Sklavin eine Verräterin war und die Entführerin keine. So oder so, die Verräterinnen haben durchblicken lassen, dass sie sie und Lorkin finden wollen.«
Sonea nahm sich einen Moment Zeit, um das Gesagte zu verarbeiten. »Und wann wurde Lorkin weggebracht?« »In der Nacht vor drei Tagen.«
Soneas Herz blieb stehen. »Vor drei Tagen! Warum hat man mich nicht sofort informiert?«
»Ihr seid soeben informiert worden.« Osen lächelte schief. »Als ich dem neuen Botschafter eingeschärft habe, dass er sich nur im äußersten Notfall mit mir in Verbindung setzen dürfe, hat er mich zu ernst genommen. Er hatte erwartet, Lorkin schnell zu finden, und hat mir erst heute Nacht von der Situation berichtet.«
»Ich werde ihn umbringen«, murmelte sie und begann im Raum auf und ab zu gehen. »Wenn diese Frau eine Schwarzmagierin ist – gibt es dort überhaupt andere Magier? –, wie soll Dannyl sie dann zwingen, Lorkin zurückzugeben?«
»Er hat die Unterstützung des Beauftragten des sachakanischen Königs.«
»Was ist, wenn sie nicht gefunden werden will? Ob sie eine Spionin ist oder eine Rebellin, sie wird erwarten, dass der Beauftragte des Königs sie tötet, wenn man sie findet. Wer weiß, was sie tun wird, um zu überleben? Damit drohen, Lorkin zu töten?« Sonea blieb stehen, weil sie plötzlich außer Atem war. Sie hatte das Gefühl, als stieße ihre Lunge nicht so viel Luft aus, wie sie einatmete. Ihr Kopf begann sich zu drehen. Sie hielt sich an der Rückenlehne eines Stuhls fest und zwang sich, langsam ein- und auszuatmen. Als ihr Kopf wieder klar war, wandte sie sich Osen zu. »Ich muss dort hinreisen. Ich muss dort sein, wenn sie ihn finden.«
Osens Gesichtsausdruck war offen und mitfühlend gewesen. Jetzt verschloss sich seine Miene und wurde hart.
»Ihr wisst, dass Ihr das nicht tun könnt«, sagte er.
Sie sah ihn mit schmalen Augen an, und ein tiefer Zorn stieg in ihr auf. »Wer würde es wagen, mich aufzuhalten?«
»Es müssen zu allen Zeiten zwei Schwarzmagier in der Gilde zugegen sein«, rief er ihr ins Gedächtnis. »Der König wird Euch niemals gestatten, Imardin zu verlassen, geschweige denn Kyralia.«
»Hier geht es um meinen Sohn!«, blaffte sie.
»Und der sachakanische König wäre vielleicht nicht damit einverstanden, dass wir Euch in sein Land schicken – oder Euch die Reise dorthin gestatten«, fuhr Osen fort, »was eine politisch gefährliche Situation noch verschlimmern und andeuten würde, dass seine Leute ein solches Problem nicht selbst lösen können.« »Und was ist, wenn sie –«
»Lorkin ist nicht dumm, Sonea«, unterbrach Rothen sie leise. »Und Dannyl ist es auch nicht.«
Sie funkelte ihn an und bemühte sich, das Aufwallen von Kränkung und Ärger darüber zu unterdrücken, dass er gegen sie war. Aber wenn Rothen nicht denkt, dass ich gehen sollte…
»Ich glaube nicht, dass Lorkin mit dieser Frau gegangen wäre, hätte es dafür nicht einen guten Grund gegeben.«
»Was ist, wenn der Grund darin bestand, dass er keine Wahl hatte?«, wandte sie ein.
»Dann müssen wir Dannyl vertrauen. Du weißt, dass er uns sofort informiert hätte, wenn die Situation wahrhaft ernst wäre. Wenn Lorkin eine Geisel ist, dann wirst du für ihn nicht mehr tun können als Dannyl. Dannyl versteht sich besser als du auf die Kunst des Verhandeins. Und die Sachakaner helfen ihm.« Seine Stimme wurde härter. »Wenn du dich in diese Unternehmung hineinstürzt, könntest du die Situation viel schlimmer machen, nicht nur für Lorkin, sondern auch für Kyralia und Sachaka.«
Plötzlich fühlte sie sich schwach und kraftlos. Hilflos. Welchen Nutzen hat all diese Macht, wenn ich sie nicht einsetzen darf, um meinen eigenen Sohn zu retten?
Aber vielleicht braucht er nicht gerettet zu werden, sagte eine schwache Stimme irgendwo in ihrem Hinterkopf.
Osen seufzte. »Ich fürchte, ich muss Euch verbieten, die Stadt zu verlassen, Schwarzmagierin Sonea. Und mit irgendjemand anderem über diese Angelegenheit zu sprechen als mit mir, dem König, dem Hohen Lord Balkan und Lord Rothen.«
»Nicht einmal mit Akkarins Familie?«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht einmal mit ihnen. Als Lorkins Mutter habt Ihr ein Recht zu wissen, was geschieht, und ich werde Euch über die Situation auf dem Laufenden halten. Ich werde heute Abend mit dem Hohen Lord Balkan über Möglichkeiten sprechen, wie wir Lord Dannyl helfen können, und es wird auch um die Frage gehen, ob wir jemanden zu seiner Unterstützung nach Sachaka schicken sollen. Wenn wir es tun, werde ich Euch so viele Einzelheiten wissen lassen, wie ich es gefahrlos tun kann.«
Das möchte ich dir auch geraten haben, dachte sie. »Ich werde regelmäßige Berichte erwarten«, sagte sie steif.
Er bedachte sie mit einem langen, nachdenklichen Blick. »Gute Nacht, Schwarzmagierin Sonea.«
Sie folgte ihm zur Tür und öffnete sie mit Magie. Bevor er hindurchtrat, nickte er ihr höflich zu. Dann war er fort, und als sie hörte, dass seine Schritte sich den Flur hinunter entfernten, schloss sie die Tür.
Sie drehte sich zu Rothen um. »Ich werde trotzdem gehen«, erklärte sie ihm und machte sich dann auf den Weg in ihr Schlafzimmer. Auf dem Kleiderschrank lag ein kleiner Koffer. Sie hob ihn mit Magie an und stellte ihn auf den Boden.
»Man wird dich nicht ein zweites Mal zurückkehren lassen«, erwiderte Rothen von der Tür aus.
Sie ging zum Schrank hinüber und öffnete ihn. Er war voller schwarzer Roben. »Das ist mir gleich. Ich werde Lorkin finden, dann werden wir auf Reisen gehen. Es wird ihr Verlust sein, nicht meiner.«