Ich sollte definitiv nicht fragen, wie sie das Gedankenlesen abwehren. Obwohl ich immer noch den Verdacht habe, dass dazu ein Prozess gehört, ähnlich dem, der für die Herstellung eines Blutsteins vonnöten ist. Plötzlich erinnerte er sich an die Hinweise auf einen Lagerstein in den Unterlagen, die er für Dannyl gelesen hatte. Vielleicht war es das Beste, überhaupt nicht über die Verräterinnen zu reden.
War es ein Risiko, den Lagerstein zu erwähnen? Es war nicht so, als wüsste er, wo er zu finden war oder wie man einen herstellte, daher würde er niemandem eine Waffe in die Hand geben.
»Erinnerst du dich, dass ich gesagt habe, Botschafter Dannyl sei Historiker?«, fragte er.
Chari nickte.
»Er arbeitet an einer Geschichte der Magie. Wir haben hier in Sachaka beide ein wenig Nachforschungen angestellt. Dannyl interessiert sich mehr dafür, die Lücken in unserer Geschichte zu füllen – wie das Ödland geschaffen oder wann und wie Imardin zerstört und wieder aufgebaut wurde. Ich interessiere mich dagegen mehr dafür, wie alte Arten von Magie funktioniert haben.«
Er hielt inne, um ihre Reaktion einzuschätzen. Chari musterte ihn eindringlich, während Tyvara ihn mit hochgezogenen Augenbrauen ansah, was er dahingehend deutete, dass sie interessiert war und auch ein wenig überrascht.
»Als ich für Dannyl Notizen machte, fand ich einen Hinweis auf einen Gegenstand, der als Lagerstein bezeichnet wurde«, fuhr er fort, »und der sich in Arvice befand. Es war offensichtlich ein Gegenstand von großer Macht. Einige Jahre nach dem sachakanischen Krieg ging er verloren – anscheinend hat ein kyralischer Magier ihn gestohlen. Wisst ihr etwas darüber?«
Chari sah Tyvara an, die die Achseln zuckte und den Kopf schüttelte.
»Ich weiß zwar nichts über dieses Exemplar im Besonderen, wohl aber ein wenig über die Lagersteine im Allgemeinen. Schon der Name legt nahe, dass es sich um Steine handelte, die Macht aufspeicherten«, antwortete Chari. »Und das muss eine sehr nützliche Eigenschaft gewesen sein. Aber sie waren selten. So selten, dass man früher den einzelnen Steinen Namen gab und ihre Geschichte aufzeichnete, als seien sie Menschen. Aber alle Lagersteine, von denen wir gehört haben, wurden vor langer Zeit zerstört. Seit es das letzte Mal einen solchen Stein gegeben hat, sind wahrscheinlich tausend Jahre vergangen oder eher noch mehr. Sollte dieser Lagerstein kurz nach dem sachakanischen Krieg existiert haben, wäre er der jüngste, von dem etwas bekannt ist. Also habt ihr bisher nichts darüber gewusst?«
Er schüttelte den Kopf.
Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. »Dann hat der Dieb ihn entweder zu gut versteckt, oder er wurde zerstört. Du sagtest, Imardin sei zerstört und wieder aufgebaut worden?«
»Ja.«
»Die Zerstörung eines Lagersteins ist angeblich gefährlich. Sie entfesselt die Magie darin auf eine unkontrollierte Art und Weise. Vielleicht war es das, was Imardin zerstörte.«
Lorkin runzelte die Stirn. »Ich halte das für möglich.«
Das Einzige, was mich an der Theorie stört, dass die Entfesselung von Tagins Macht hei seinem Tod die Stadt dem Erdhoden gleichgemacht haben soll, war die Frage, wie er nach dem Sieg über die Gilde noch mächtig genug sein konnte, um solche Zerstörung über das Land zu bringen. Aber wenn er den Lagerstein hatte?
»Wir könnten die Dokumentenhüter im Sanktuarium danach fragen«, sagte Chari. »Ich meine, nach älteren Lagersteinen. Ich bezweifle, dass sie etwas über Imardins Geschichte wissen.«
»Königin Zarala könnte etwas wissen«, bemerkte Tyvara.
Chari zog die Augenbrauen hoch. »Ich nehme an, wenn sie ihn in die Stadt lässt, wird sie ihn überprüfen wollen.«
»Das wird sie.« Tyvara musterte ihn mit einer seltsamen, selbstgefälligen Erheiterung. »Definitiv.«
Chari kicherte und wandte sich zu Lorkin um. »Bist du dir sicher, dass du ins Sanktuarium kommen willst?«
»Natürlich.«
»Tyvara hat dir erzählt, dass es von Frauen geleitet wird, nicht wahr? Männer können dort niemanden herumkommandieren. Nicht einmal Magier wie du.«
Er zuckte die Achseln. »Ich verspüre keinerlei Verlangen, irgendjemanden herumzukommandieren.«
Sie lächelte. »Du bist ein so vernünftiger Mann. Ich dachte immer, Kyralier seien arrogant und unehrlich. Ich schätze, ihr könnt nicht alle gleich sein. Tyvara würde dich nicht dorthin bringen, wenn du so wärst. Und es ist so lieb von dir, den ganzen weiten Weg zu machen und dein Leben für Tyvara zu riskieren.«
»Nun, sie hat mir das Leben gerettet.«
»Das ist wahr.« Chari streckte die Hand aus und tätschelte ihm sachte den Arm. »Ehrenhaft und gutaussehend. Ich schätze, du wirst deine Sache gut machen. Meine Leute werden ihre Meinung über die Kyralier ändern, sobald sie dich kennengelernt haben.«
»Ja, und im Nu werden wir Geschenke und Rezepte austauschen«, murmelte Tyvara trocken.
Lorkin drehte sich zu ihr um. Sie sah ihm kurz in die Augen, dann wandte sie stirnrunzelnd den Blick ab. Irgendetwas missfällt ihr, dachte er. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Denkt sie, dass Chari uns verraten wird?
»Also, erzähl mir mehr über die Gilde«, sagte Chari hinter ihm.
Tyvara verdrehte seufzend die Augen. Erleichterung und Erheiterung traten an die Stelle des besorgten Ausdrucks. Sie fand Charis Geplapper einfach lästig. Nun, ich hoffe, das ist es. Ich wünschte, ich könnte mit ihr reden. Seit Chari sie gefunden hatte, hatten sie keinen ungestörten Augenblick mehr zusammen gehabt.
Ein Stich der Frustration durchzuckte ihn. Ich wünschte, ich könnte mit vielen Leuten reden. Angefangen mit Mutter und Dannyl. Er dachte an den Blutstein, der noch immer im Rücken seines Notizbuchs verborgen war. Er hatte keine Chance gehabt, ihn zu benutzen, ohne ihn Tyvara zu offenbaren. Und jetzt, da Chari bei ihnen war, würde es erst recht keine Gelegenheit dazu geben. Vielleicht sollte er Tyvara wissen lassen, dass er diesen Stein besaß. Aber er ist meine einzige Verbindung zur Gilde. Wenn ich schon das Risiko eingehen muss, ihn zu verlieren, sollte ich warten, bis das Risiko sich nicht mehr vermeiden lässt. Und wenn ich irgendeine Art von Handel oder Bündnis zwischen der Gilde und den Verräterinnen aushandeln soll, werde ich eine Möglichkeit brauchen, um zwischen ihnen zu vermitteln.
In der Zwischenzeit konnte er genauso gut sein Bestes tun, um eine Grundlage für gute Beziehungen zwischen seinem Land und den Verräterinnen zu schaffen. Er wandte sich wieder Chari zu und lächelte.
»Mehr über die Gilde? Was würdest du denn gern erfahren?«
24
Die Verbündeten, die man braucht
Das Sonnenhaus machte seinem Namen alle Ehre. Warmes Sonnenlicht umhüllte den Garten und die Ruinen und ließ die farbenfrohen Blumen in dem Meer aus grüner Vegetation leuchten. Skellin erwartete Cery in derselben Hütte, in der sie sich beim letzten Mal getroffen hatten, und sein Wachposten stand in der Nähe.
Gol blieb ebenso weit von der Hütte entfernt wie der andere Wächter. Cery ging weiter, wobei er dem Drang widerstand, sich umzudrehen und hinter sich zu blicken, aber nicht wegen seines Freundes und Leibwächters. Wie immer hatte er dafür gesorgt, dass einige seiner Leute ihm folgten und Wache hielten, bereit zu helfen, falls er sie brauchte, oder um ihn vor nahenden Gefahren zu warnen. Er nannte sie seine »Schattenwache«. Nur dass diesmal ein neues Gesicht unter den vertrauten war.
Anyi. Sie lernte schnell. Sie war flink und beweglich und bisweilen ein wenig zu verwegen. Es hatte sich jedoch herausgestellt, dass die Risiken, die sie einging, häufiger auf Unwissenheit beruhten als auf Torheit, und sie nahm seine und Gols Unterweisung und Ratschläge mit beruhigender Begeisterung und Intelligenz auf. Ihm zu folgen und zu beobachten war die sicherste Methode, um ihr das Gefühl zu geben, dass sie die Arbeit machte, die sie wollte, ohne das Risiko einzugehen, irgendjemandem ihre Identität zu offenbaren oder sie wirklich in Gefahr zu bringen.