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»Hat sie offenkundig eine Regel gebrochen?«, fragte Osen.

Keiner der Magier antwortete.

»Glaubt irgendjemand, dass sie bestraft werden sollte?«

Wieder meldete sich keiner der Magier zu Wort. Osen nickte. »Dann werde ich, sofern niemand mir widerspricht, erklären, dass sie gegen keine Regel verstoßen hat. Ich werde außerdem bekannt geben, dass Lord Jawen sich richtig verhalten hat, indem er das Gehörte meldete, und feststellen, dass Prüfungen der neuen Regel sinnvoll sind und ermutigt werden sollen. Wir wollen nicht, dass irgendjemand die heutige Entscheidung als Hinweis darauf deutet, dass Gefälligkeiten für zwielichtige Charaktere immer übersehen werden.«

»Denkt Ihr, Lady Talie würde diesen Mann für die Wache identifizieren und seine Geschäfte bestätigen?«, fragte Rothen, an Lady Vinara gewandt.

»Ich könnte mir vorstellen, dass ihr das widerstreben würde«, antwortete Vinara. »Wenn er genug Einfluss hatte, um sie dazu zu zwingen, dieses Lager zu betreten, dann hat er vielleicht auch genug Einfluss, um sie daran zu hindern, die Stimme gegen ihn zu erheben. Ich werde sie fragen, aber nur wenn die Wache ihrer Hilfe tatsächlich bedarf.«

»Sollte sie sich dazu bereitfinden und eine Verurteilung erzielt werden, wird das Verbrechern zur Abschreckung dienen, sich Magier zunutze zu machen«, sagte Osen. Er rief die junge Heilerin wieder herein und teilte ihr die Entscheidung mit. Sie wirkte erleichtert.

Und vielleicht ein wenig verärgert, dass sie dies über sich ergehen lassen musste, bemerkte Sonea. Osen erklärte die Versammlung für beendet, und die Höheren Magier schickten sich an, die Halle zu verlassen. Als sie von ihrem Platz herabgestiegen war, wartete Rothen auf sie.

»Was denkst du?«, murmelte er ihr zu.

»Ich denke, die neue Regel wird wirkungslos sein, was den Versuch betrifft, Magier und Verbrecher voneinander fernzuhalten«, erwiderte sie.

»Aber in der Vergangenheit wäre jemand von ihrem Rang niemals angezeigt worden, nicht einmal dann, wenn ihre Tat offensichtlich unrecht gewesen wäre.«

»Nein, aber nichts wird verhindern, dass diese Art von Vorurteilen zurückkehrt, während die Magier die Einschränkungen der neuen Regel begreifen. Ich werde erst dann davon überzeugt sein, dass es eine Verbesserung ist, wenn die Schikanen, denen Magier von niederer Herkunft ausgesetzt sind, nachlassen.«

»Denkst du, sie hätte dem Verletzten geholfen, wenn es keinen Anreiz gegeben hätte, dem Mann zu Gefallen zu sein, der sie darum gebeten hat?«

Sonea dachte über die Frage nach. »Ja, wenn auch nicht ohne eine gewisse Geringschätzung.«

Er lachte leise. »Nun, das ist jedenfalls eine Verbesserung gegenüber der Vergangenheit. Dank deiner Hospitäler hält man es nicht länger für akzeptabel, eine Heilung zu verwehren, weil der Patient sie sich nicht leisten kann.«

Sie sah ihn überrascht an. »So sehr haben die Dinge sich verändert? Aber gewiss hat Vinara nicht aufgehört, Geld von Patienten zu verlangen, die zu den Heilerquartieren kommen.«

»Nein.« Er lächelte. »Es ist eher eine Veränderung der Einstellung. Es ist nicht, nun ja, heilermäßig, jemanden zu ignorieren, über den man zufällig stolpert und der dringend der Heilung bedarf. Das heißt, wenn der Betreffende verletzt ist oder im Sterben liegt – nicht wenn er einen Kater hat oder den Winterhusten. Es ist so, als sei das Ideal, nach dem ein Heiler jetzt strebt, eine Person mit Vinaras Klugheit und deinem Mitgefühl.«

Sie starrte ihn ungläubig und bestürzt an.

Er lachte. »Ich würde liebend gern das Ende meines Lebens in dem Wissen erreichen, dass ich eine Veränderung zum Guten bewirkt habe, doch trotz all meiner Arbeit glaube ich nicht, dass es dazu kommen wird. Aber jetzt, da ich sehe, wie unbehaglich du dich bei dem Thema fühlst, frage ich mich, ob ich dafür nicht dankbar sein sollte.«

»Ihr habt etwas bewirkt, Rothen«, protestierte sie. »Ohne Euch wäre ich niemals Magierin geworden. Und was ist das für ein Gerede vom Ende Eures Lebens? Es wird noch Jahre – Jahrzehnte – dauern, bis Ihr anfangen müsst, einen Grabstein zu planen, der die Steine aller anderen in den Schatten stellt.«

Er verzog das Gesicht. »Ein schlichter Stein wird vollauf genügen.«

»Das ist gut, denn bis dahin wird es kein Gold mehr in den Verbündeten Ländern geben. Nun haben wir aber genug über Tod geredet. Regin geht zweifellos vor meiner Tür auf und ab und will wissen, wie wir uns entschieden haben, und ich würde dieses kleine Gespräch gern hinter mich bringen, damit ich vor der heutigen Nachtschicht noch ein wenig schlafen kann.«

Neun Männer ritten jetzt jeden Tag neben Achatis Kutsche her – vier sachakanische Magier, ihre Quellsklaven und einer der grauhäutigen Männer vom Stamm der Düna aus dem Norden, dessen Dienste als Fährtensucher man sich versichert hatte.

Dannyl war sich ständig bewusst, dass diese mächtigen Männer ihre behaglichen Häuser verlassen und sich der Suche aufgrund der bloßen Vermutung angeschlossen hatten, dass Lorkin und Tyvara auf dem Weg in die Berge waren und dass die Verräterinnen weiter versuchen würden, die beiden einzufangen. Wenn er sich irrte… es wäre überaus peinlich.

Falls die vier Magier an Dannyls Überlegungen zweifelten, wussten sie es gut zu verbergen. Sie und Achati hatten darüber gesprochen, wie sie sich den Bergen nähern und versuchen sollten, die Fährte aufzunehmen. An diesem Gespräch hatten sie Dannyl zwar beteiligt, ohne jedoch Zweifel daran zu lassen, dass er hier nicht das Kommando führte. Er kam zu dem Schluss, dass es das Beste sei, das zu akzeptieren, sie in allen Belangen um Rat zu fragen, aber stets klarzustellen, dass er entschlossen war, seinen Gehilfen zu finden, und sich nicht so leicht davon würde abbringen lassen.

Einer der Magier hatte Unh, den Düna, gefragt, ob er glaube, dass Lorkin und Tyvara auf dem Weg zu der Heimat der Verräterinnen seien. Der Mann hatte genickt und auf die Berge gezeigt.

Der Düna sprach nur selten, und wenn er es tat, benutzte er so wenige Worte wie möglich, um sich auszudrücken. Er trug nur einen Rock aus Tuch, über den er einen Gürtel gebunden hatte. An dem Gürtel hingen kleine Beutel, fremdartige Schnitzereien und ein Messer in einer hölzernen Scheide. Nachts schlief er im Freien, und obwohl er das Essen annahm, das die Sklaven ihm brachten, sprach er doch niemals mit ihnen oder kommandierte sie herum.

Ich frage mich, ob all seine Leute so sind. Still, wachsam…

»Woran denkt Ihr gerade?«

Dannyl blinzelte und sah Achati an. Der Sachakaner musterte ihn nachdenklich von dem gegenüberliegenden Sitz in der Kutsche.

»An Unh. Er hat so wenige Besitztümer und scheint so wenig zu brauchen. Und doch benimmt er sich nicht wie ein armer Mann oder ein Bettler. Er hat… Würde.«

»Die Düna leben seit Jahrtausenden auf die gleiche Art und Weise«, erklärte Achati. »Sie sind Nomaden und ununterbrochen auf Reisen. Ich nehme an, Ihr würdet ebenfalls lernen zu behalten, was Ihr am dringendsten braucht, wenn Ihr es ständig bei Euch tragen müsstet.«

»Warum reisen sie so viel?«

»Ihr Land ist unfruchtbar, versengt von der Asche der Vulkane im Norden. Alle paar hundert Jahre haben meine Leute versucht, das Land der Düna in ihren Besitz zu bringen, sei es durch Gewalt oder durch die Gründung von Städten und den Anspruch auf das Land, indem sie darauf siedelten. Im ersten Fall sind die Düna in den gefährlichen Schatten der Vulkane verschwunden, und in letzterem haben sie lediglich mit den Siedlern Handel getrieben und abgewartet. Es wird schnell klar, dass Ernten hier nicht wachsen und Tiere sterben, und jedes Mal hat mein Volk die Dörfer verlassen und ist nach Sachaka zurückgekehrt. Die Düna haben ihre alten Gepflogenheiten wieder aufgenommen und …« Achati brach ab, als die Kutsche um eine Biegung fuhr, und schaute aus dem Fenster. »Sieht so aus, als hätten wir unser Ziel erreicht.«

Sie beobachteten, wie niedrige weiße Mauern an der Kutsche vorbeiglitten, dann schließlich ein offenes Tor. Sobald die Kutsche anhielt, öffnete Achatis Sklave die Tür. Dannyl folgte Achati ins Freie und betrachtete den Innenhof des Gutes und die mit dem Gesicht nach unten auf dem staubigen Boden liegenden Sklaven. Der Rest der Magier, ihre Sklaven und der Düna saßen ab, und Achati trat vor, um nach dem obersten Sklaven zu fragen.