Was allerdings die Frage betraf, warum Chari versuchte, ihn zu beruhigen…
Plötzlich verstand er, was Chari ihm zu sagen versucht hatte. Sie dachte, zwischen ihm und Tyvara gebe es eine Art romantischer Beziehung. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Nun, es hat tatsächlich einen Anflug davon gegeben, auf eine bedauerlich einseitige Weise. Seit er Tyvara das erste Mal begegnet war, hatte er sie reizvoll gefunden. In der Nacht, in der er beinahe ermordet worden wäre, hatte er gedacht, sie sei die Frau in seinem Bett, und der Gedanke hatte ihm sehr gefallen.
Chari scheint nicht zu glauben, dass es einseitig ist. Hat sie recht?
Er warf einen verstohlenen Blick auf Tyvara. Sie hatte sich wieder erhoben und schaute, die Stirn in Sorgenfalten gelegt, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Als er sich umdrehte, sah er, was sie betrachtete. Zwei Frauen liefen den Pfad hinauf. Als sie vorbeikamen, hörte Lorkin, dass sie vor Anstrengung keuchten.
Sie verschwanden in einer Hütte, und ein Augenblick angespannten Schweigens folgte, während alle abwarteten, dann kam Savara heraus, gefolgt von einer Handvoll Verräterinnen und den beiden Frauen. Sie sagte etwas, und sofort verblassten die Lichtkugeln zu einem schwachen Schimmer.
»Wir müssen alle sofort aufbrechen«, erklärte sie. Sie schaute von einem zum anderen, bis ihr Blick schließlich auf Lorkin ruhte. »Die Magier, die Lord Lorkin suchen, kommen in diese Richtung, und sie sind jetzt zu sechst, einschließlich des Kyraliers. Teilt euch in drei Gruppen auf. Jede Gruppe wird von hier aus einer anderen Route folgen. Tyvara, Lorkin und Chari, ihr solltet mit mir kommen.«
Lorkin erhob sich und eilte auf sie zu. »Wenn ich mit Botschafter Dannyl rede, kann ich ihn gewiss davon überzeugen, die Suche einzustellen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ihn könntest du vielleicht überzeugen, aber bei den anderen wird dir das nicht gelingen, wenn sie denken, dass sie uns diesmal vielleicht fangen können. Außerdem haben sie einen Mann bei sich – einen Fährtensucher –, der Erfolg haben könnte, wo andere gescheitert sind.« Sie lächelte grimmig. »Es tut mir leid. Ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber das Risiko ist zu groß.«
Lorkin nickte. Die Leute um ihn herum packten hastig zusammen und räumten alle Spuren ihrer Anwesenheit fort. Eine Frau begann den Boden zu fegen, aber Savara hielt sie auf.
»Es hat keinen Sinn, sämtliche Spuren zu verbergen. Wir wollen, dass sie sich entweder aufteilen oder der falschen Fährte folgen.« Sie musterte Lorkin von Kopf bis Fuß. »Findet jemanden, dessen Füße von ähnlicher Größe sind wie seine, und lasst sie die Schuhe tauschen.«
Schon bald hatten die Verräterinnen drei Gruppen von beinahe gleicher Größe gebildet. Savara befahl ihnen, bis zum Morgen zu wandern, ohne ihre Spuren zu verwischen, und sich dann mit den üblichen Vorsichtsmaßnahmen auf den Weg zum Sanktuarium zu machen. Leise verabschiedeten sie sich von den anderen Gruppen, dann brachen sie auf. Lorkin kletterte mit Savaras Gruppe die steile Seite des Tals empor. Seine Aufmerksamkeit galt verschiedenen Fragen gleichzeitig: Er überlegte, ob sein Verdacht in Bezug auf Tyvara der Wahrheit entsprach, er brannte darauf zu erfahren, wie Savaras Entscheidung ausfallen würde, und er machte sich Sorgen, dass Dannyl und die Sachakaner sie einholen würden.
Und wenn letzterer Fall eintraf, was würden die Sachakaner dann tun? Was würden die Verräterinnen tun? Würde es zu einem Kampf kommen? Er wollte nicht, dass jemand seinetwegen starb. Nun, nicht noch jemand, räumte er ein.
Wenn es zum Kampf kam, was sollte er tun? Würde er sich Dannyl anschließen, um eine Schlacht zu vermeiden, oder würde er sich auf die Seite der Verräterinnen stellen, damit er Tyvara vor einer Hinrichtung retten konnte?
Cery drehte sich zu langsam, um dem Messer schnell und weit genug auszuweichen, das sich nun in seine Rippen drückte. Er hörte, dass Anyi ein leises Schnauben des Triumphs von sich gab.
»Gut«, sagte er und verkniff sich ein Lächeln, als er sie losließ und zur Seite trat. »Jetzt hast du’s begriffen.«
Sie grinste und nahm das hölzerne Übungsmesser wieder in die linke Hand.
»Obwohl du ein wenig zu hoch gezielt hast«, erklärte er ihr. »Du bist es gewohnt, mit Gol zu üben.«
»Ich hätte dich trotzdem geschnitten«, bemerkte sie.
»Ja, doch dein Messer wäre vielleicht an meinen Rippen abgeglitten.« Cery klopfte auf den unteren Teil seiner Brust, wo kurz zuvor ihr Messer gewesen war. »Was keine der fünf Schwachstellen ist. Augen, Kehle, Magen, Lenden, Knie.«
»Manchmal ist es besser, einem Angreifer die Knie zu zerschmettern und wegzulaufen, statt zu versuchen, ihm einen Dolch ins Herz zu rammen«, sagte Gol. »Es kann schwierig sein, das Herz zu treffen. Rippen könnten die Waffe ablenken. Wenn du dein Ziel verfehlst, kann er dich verfolgen. Wenn du seine Knie erwischt hast, kann er das nicht mehr. Und er wird es vielleicht nicht erwarten.«
»Ein Stich in die Eingeweide wird ebenfalls langsam töten«, ergänzte Cery. »Es macht nicht viel Spaß, verschafft dir aber genug Zeit, um es in Ruhe noch einmal zu versuchen.«
»Und du solltest nur dann töten, wenn du den Befehl dazu hast«, fügte Gol hinzu.
»Ich sollte dich mit kleineren Personen üben lassen.«
»Und mit jüngeren«, sagte Anyi. Gol schnaubte, und sie wandte sich zu ihm um. »Komm schon. Ihr seid beide nicht mehr so schnell, wie ihr mal wart, und wenn irgendjemand jemanden auf deine Fährte hetzt, wird er wohl kaum einen alten Auftragsmörder aus dem Ruhestand holen, um dir eine faire Chance zu geben.«
Gol kicherte. »Sie hat nicht unrecht.«
Es klopfte an die Tür, und sie drehten sich alle um. Sie befanden sich in einem der oberen Lagerräume eines Bolhauses, das Cery gehörte und das als »Die Mühle« bekannt war. Es war ein Ort, an dem er sich mit Personen aus seinem Territorium treffen konnte, die eine Audienz erbeten hatten. Die Geschäfte mussten weitergehen, und das bedeutete, dass er ab und zu zur Verfügung stehen musste. Wie bei all seinen Häusern gab es auch aus diesem jede Menge Fluchtwege.
Cery nickte Gol zu, der durch den Raum schritt, um die Tür zu öffnen. Der große Mann hielt inne, dann trat er beiseite. Im Eingang stand ein untersetzter, massiger Mann, der schon seit Jahren für Cery arbeitete.
»Ein Bote ist hier, um mit dir zu sprechen«, sagte er. »Von Skellin.«
Cery nickte. »Schick ihn herein.«
Gol nahm links von Cery Aufstellung, die Arme in seiner typischen beschützenden Pose über der Brust verschränkt. Anyi kniff die Augen zusammen, dann ging sie an Cery vorbei, um rechts von ihm Position zu beziehen. Als er sie ansah, erwiderte sie seinen Blick voller Trotz und forderte ihn heraus, ihr Tun infrage zu stellen. Er erstickte ein Lachen.
»Habe ich gesagt, der Unterricht sei vorüber?«, fragte er und blickte zwischen ihr und Gol hin und her. Sein Leibwächter blinzelte, dann sah er Anyi an. »Zurück an die Arbeit«, befahl Cery.
Er beobachtete, wie sie dorthin zurückkehrten, wo sie geübt hatten. Gol sagte etwas, worauf Anyi die Achseln zuckte und dann in Kampfstellung ging. Gut, dachte Cery. Falls Skellins Bote berichtet, dass ich einen neuen, weiblichen Leibwächter habe, kann er geradeso gut auch über ihre Fähigkeiten Bericht erstatten. Ich kann sie nicht für immer verstecken. Wenn irgendjemand mitbekommt, dass ich jemanden versteckt halte, wird er annehmen, dass es einen Grund dafür gibt, und anfangen, Fragen zu stellen.
Trotzdem kribbelte seine Haut, als eine Gestalt in die Tür trat. Es war eine Sache zu wissen, dass geliebte Menschen in Gefahr waren, weil man war, wer man war, aber eine ganze andere, sie tatsächlich in eine Position zu bringen, in der beträchtliche Gefahr herrschte.