Выбрать главу

»Ja?«

»Wer spricht dort?«

Eine Frauenstimme. Mit Akzent. Was für einem Akzent? Scheißegal, mit was für einem Akzent, dachte er. »Wen wollen Sie denn sprechen?«

»Herrn Daniel Ross.« Er gab keine Antwort. »Hallo!« »Ja.«

»Sind Sie Herr Daniel Ross?«

»Ja. Was wünschen Sie?« Er bemerkte, daß er leicht lallend sprach, und das erfüllte ihn mit Genugtuung. Es geht los, dachte er. Er trank einen großen Schluck.

»Mein Name ist Mercedes Olivera. Ich muß Sie dringend sprechen.«

Ross stellte das Glas hart auf den Schreibtisch. Jetzt war er wütend. »Haha.«

»Bitte?«

»Großer Spaß. Wer sind Sie? Jemand vom Sender? Mit wem sind Sie zusammen? Wer sind die anderen Spaßmacher? Wer sind die Arschlöcher?« schrie er unbeherrscht und erschrak. Nicht. Nicht schreien. Die Person hat dann das Gefühl, hier ist etwas nicht in Ordnung. Kommt her. Schickt wen her. Die Polizei. Plötzlich wurde ihm widerlich heiß, Schweiß brach aus. Das kannte er. Kam vom Nobilam. Er hatte seit langem Schweißausbrüche, sehr oft nachts, im Schlaf, auch im Sender, bei der Arbeit. Ganz plötzlich. Der Schweiß rann ihm von der Stirn in die Augen. Das brannte. Über den Rücken rann auch Schweiß, er spürte es unter der Pyjamajacke. Ross trug einen Pyjama, er hatte sich für das Bett fertig gemacht, bevor er mit dem Kapselschlucken anfing. Er sagte: »Entschuldigen Sie. Tut mir leid. Nerven verloren. Sie suchen einen anderen Ross. Ross ist ein häufiger Name.«

»Sie wohnen in der Sandhöfer Allee?« Die Stimme klang sehr bestimmt.

»Ja.«

»Dann sind Sie es!«

Das wird ein Idiotengespräch, dachte er. Und wenn da noch ein paar im Sender hocken und mich auf den Arm nehmen? Nein, dachte er. Nein. Die sind alle froh, daß sie nichts mehr zu tun haben mit mir. Nicht anstreifen an mich. Ich habe die Pest. Die Pest habe ich. Aber wer ist dann die Frau? Wo ist die Frau? »Wo sind Sie?«

»In Kloten.«

»Wo?«

»Flughafen von Zürich. Heißt doch Kloten – oder?« Plötzlich war da leise Musik. Langsame, altmodische,

wehmütige Musik. Eine dunkle Frauenstimme sang: »... wenn ich mir was wünschen dürfte ...« Sibylle. Unser Lied, dachte er. Wie kommt dieses Lied in die Leitung?

Jetzt zitterte er vor Schreck am ganzen Körper. Was soll das, dachte er entsetzt. Höre ich wieder eine Stimme, so wie ich die Stimme von Fritz gehört habe? Und Musik dazu? Unser Lied? Und eine zweite Stimme? Ist es das verfluchte Nobilam? Gehen

die Erscheinungen wieder los? Fängt ein Medikamentendelirium an? Jetzt? Am Samstagabend? Mit all dem Nembutal im Bauch? Er geriet in Panik, sprang auf, schrie: »Sind Sie wirklich ...?«

»Ich verstehe nicht.«

»... käm’ ich in Verlegenheit ...« sang die Frauenstimme, rauschend setzte ein Orchester ein.

Oh, bitte, nein. Nein, nein, nein, dachte er verzweifelt. Er biß sich auf die Unterlippe. Er setzte sich. Auf einmal wurde ihm übel. So etwas kam häufig vor, ganz plötzlich. Das verdankte er auch dem verfluchten Nobilam. Aber ohne das verfluchte Nobilam kann ich nicht leben, dachte er. Immer schlimmer. Das wird immer schlimmer. Verrückt! Ich will ja gar nicht leben! Sterben will ich! Er trank, schenkte Whisky nach und trank wieder. Die Flasche stieß gegen das Glas, so sehr bebte seine Hand. »Hallo!« Jetzt war die Frauenstimme unruhig. »Hallo! Was ist mit Ihnen? Sind Sie krank? Fehlt Ihnen etwas, Herr Ross?«

»Mir ... geht ... es ... ausgezeichnet ... Sind Sie wirklich ...« Er schluckte. Die Übelkeit schwand.

»Was soll das heißen: Sind Sie wirklich.«

»Sind Sie wirklich ... in ... Kloten?« Nimm dich zusammen, Mensch. Scheißkerl. Neurotiker. Hysteriker, verfluchter. Zusammennehmen sollst du dich.

»Das sage ich doch! Ich spreche aus einer Bar. Der Mixer war so freundlich ...«

»... was ich mir denn wünschen sollte ...«

Das halte ich nicht aus. Das halte ich nicht aus. Er rief: »Ist da Musik?«

»Ja. Der Mixer hat eine Kassette in das Stereogerät gelegt. Sie können die Musik hören, wie?«

»Ah ...« Große Erleichterung erfüllte ihn. Seine Stimmung wechselte von einer Sekunde zur anderen. Es gab diese Frau. Es gab ja auch »Wenn ich mir was wünschen dürfte«. Alles war wirklich. Kein Delirium würde ihm den Tod versauen. Aber weshalb wollte diese Frau ihn sprechen?

»... eine schlimme oder gute Zeit ...« Die dunkle Frauenstimme. Das Orchester. Ein Klavier. Sibylle. Damals in Wien, als wir so jung und glücklich waren. Aber jetzt? Ausgerechnet jetzt? Ach, Sibylle ...

»Ich bin gerade gelandet, Herr Ross.«

»Von wo kommen Sie?«

»Aus Buenos Aires.«

»... wenn ich mir was wünschen dürfte ...« Die Dietrich war das, die sang! Die Dietrich. Marlene Dietrich.

»Woher?«

»Aus Buenos Aires.«

»... möchte’ ich etwas glücklich sein ...«

»Es ist von größter Wichtigkeit. Ich muß Sie gleich sprechen.«

»... denn wenn ich gar zu glücklich wär’ ...« »Ich kenne Sie nicht!«

»... hätt’ ich Heimweh nach dem Traurigsein«, sang Marlene Dietrich. Das Orchester wurde lauter und brachte das Lied zu Ende. Andere Musik erklang, »Aber ich kenne Sie!«

Das hielt kein Mensch aus. Das war unerträglich. Er ließ den Hörer fallen. Der Hörer fiel in seinen Schoß. Er legte ihn auf den Apparat und trank wieder, lange. Er keuchte ein wenig. Plötzlich ekelte er sich vor dem feuchten Pyjama. Unsicher stand er auf und ging durch das große, dunkle Arbeitszimmer mit den Bücherregalen ins Schlafzimmer, wo er eine der beiden Lampen links und rechts vom Bett anknipste. Aus dem Wandschrank holte er einen Schlafanzug, streifte den anderen ab, trat ins Badezimmer, rieb den Körper trocken und mit Eau de Cologne ein und zog den neuen Pyjama an. Wie eine mächtige Woge schlug Müdigkeit über ihm zusammen. Ins Bett. Jetzt ins Bett. Er hatte schon die Decke zurückgezogen, da fiel ihm etwas ein. Die Kapseln! Er mußte alle nehmen, auch die letzten. Und die Tür absperren! Er taumelte nun bereits auf dem Weg zurück zum Schreibtisch. Als er die letzten Kapseln mit Whisky geschluckt hatte, begann wieder das Telefon zu läuten. Jetzt schwer benommen, hob er ab und hörte sofort wieder ihre Stimme: »Hier ist ...«

»Ja, ich weiß. Gehen Sie zum Teufel!« Er hatte genug. Ins Bett. Er wollte ins Bett. Schlafen. Tod. Frieden.

»Herr Ross, ich flehe Sie an!«

»Ja, ja«, sagte er und dachte: Die Dietrich singt nicht mehr. Diese andere Musik kenne ich nicht.

»Wir müssen eine Reise zusammen machen.« »Nix«, sagte er.

»Was?«

»Nix. Ich reise gerade ab.«

»Aber ... aber ... Das dürfen Sie nicht!« schrie sie. Jetzt schrie sie.

Er lachte böse.

»Lachen Sie nicht! Sie wissen ja nicht, worum es geht!« »Okay, okay«, sagte er und legte den Hörer auf. Danach bückte er sich und stöpselte den Apparat aus. So. Nun

konnte die Verrückte nicht mehr anrufen. Nun konnte niemand mehr anrufen. Er ging in die Diele, drehte das Sicherheitsschloß der Eingangstür zu, sperrte ab und legte die Kette vor. Aus dem Schlafzimmer fiel eine Lichtbahn in den Arbeitsraum. Ross knipste die Schreibtischlampe aus und taumelte zurück in das Schlafzimmer. Auch hier gingen die Fenster auf den Garten hinaus. Der Kater und die brünstige Katze schrien noch immer. Ross mußte ins Badezimmer. Den mysteriösen Anruf jener Frau hatte er längst vergessen. Er war jetzt sehr betrunken und sehr schläfrig. Plötzlich fielen ihm die Sätze Bertrand Russells auf der kleinen Silberplatte ein, und er dachte an den Teufel, der diese Welt aus Wirrwarr und Zufall mit Absicht geschaffen hatte. Er lächelte. Jetzt wirst du sterben, sagte er zu sich, und eine große Glückseligkeit überkam ihn. Er wurde mit jeder Minute ruhiger. Schlafen, dachte er. Schlafen und nie mehr aufwachen müssen. Er lächelte stärker. Es gibt kein Leben nach dem Tod, und es gibt keinen Gott. Das Argument, dachte er, das die, die an ihn glauben, anführen, nämlich das der ersten Ursache, ist Unfug. Sie behaupten, daß alles, was auf dieser Welt geschieht, eine Ursache hat und daß man zu einer ersten Ursache kommen muß, sofern man die Ketten aller Wirkungen und Ursachen immer weiter zurückverfolgt. Und diese erste Ursache nennen sie Gott. Wenn aber alles eine Ursache haben muß, dann muß auch Gott eine Ursache haben. Und wenn es etwas gibt, das keine Ursache hat, dann kann das ebensogut Gott wie die Welt sein. Wer, verflucht, dachte er, vermag mir einen Grund zu nennen, warum die Welt nicht auch ohne Ursache begonnen haben könnte oder warum sie nicht schon immer bestanden hat? Wer sagt, daß die Welt einen Anfang gehabt haben muß? Warum? Diese fixe Idee, daß alles einen Anfang gehabt haben muß, ist nur eine Folge unserer lächerlich beschränkten Vorstellungskraft.