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Er verließ das Badezimmer, legte sich ins Bett und knipste das Licht aus. So hat also doch noch alles ein gutes Ende gefunden, dachte er. Im Garten kreischten die Katzen nun sehr laut, und aus einem von den Lichtern der großen Stadt milchig erhellten Himmel sanken Schneeflocken herab auf die schmutzige Erde. Wenige Minuten später war er eingeschlafen. Er träumte von dem Teufel, der die Welt erschaffen hatte.

»Wir werden unser Recht natürlich niemals mit Gewalt durchsetzen, aber wir bestehen auf ihm, und wir halten es für selbstverständlich, daß dieses Recht auf Heimat und die Wiedervereinigung unseres Vaterlands in Frieden und Freiheit für alle wirklich deutsch denkenden Politiker eine Conditio sine qua non ist – und für alle anständigen ausländischen Politiker auch. Deshalb reagieren wir auf die seinerzeitige sogenannte Ostpolitik des Herrn Brandt und die skandalöse Anerkennung der Oder-Neisse-Linie immer weiter mit leidenschaftlicher Empörung. Wir haben diese Linie nicht anerkannt, und wir werden es niemals tun!«

Diese Worte sagte am Dienstag, dem 8. November 1983, im Studio III des Senders Frankfurt ein Mann namens Siegfried Woitech, von Beruf Stellvertretender Vorsitzender der Vereinigten Vertriebenenverbände Deutschlands e.V.

Daniel Ross, ein schlanker, fast hagerer Mann von sechsundvierzig Jahren mit dichtem, bereits völlig weißem Haar, schwermütigen grauen Augen und einem großen Mund in dem schmalen Gesicht, saß dem Funktionär an einem Tisch gegenüber. Die alle vierzehn Tage ausgestrahlte Sendung Focus, deren Redakteur und Moderator Ross seit sechs Jahren war, lief bereits fünf Minuten. Dieses bei den Zuschauern wegen seiner absoluten Natürlichkeit außerordentlich beliebte Magazin – es gab nur Interviews zu aktuellen Themen, und alle Diskussionen wurden live, ohne vorherige Probe gesendet – beschäftigte sich ähnlich wie das Magazin KENNZEICHEN D des ZDF mit Meldungen und Ereignissen, welche beide deutsche Staaten betrafen. In der dreiviertel Stunde, die Focus zwischen 21 Uhr und 21 Uhr 45 lief, gab es stets mehr Beiträge, und Ross sprach stets mit mehreren Menschen. Siegfried Woitech war eingeladen worden, weil sein Verband in der Dortmunder Westfalenhalle am 4. November eine Großkundgebung veranstaltet hatte, bei welcher es zu Tumulten und schweren Schlägereien zwischen sehr unterschiedlich orientierten Zuhörern gekommen war. Zwei Hundertschaften der Polizei hatten eingreifen müssen, es hatte elf Schwerverletzte und eine große Zahl Leichtverletzter gegeben. Eine Reihe von Personen war vorübergehend festgenommen worden. Zeitungen, Funk und Fernsehen berichteten daraufhin je nach Einstellung von »kommunistischen Terrortrupps« beziehungsweise von »rechtsradikalen Exzessen gefährlichster Art«. Siegfried Woitech war Daniel Ross’ erster Gast in der Focus-Sendung vom 8. November 1983. Drei elektronische Kameras nahmen das Gespräch auf. Ross hatte Woitech vor Beginn der Sendung in den Regieraum geführt, der einen Stock höher lag und durch dessen sehr großes Fenster man in das Studio hinabblicken konnte. Er hatte ihn mit dem Regisseur, der Bildmischerin und dem Produktions-Ingenieur bekannt gemacht, und der Funktionär wußte nun, daß Bildmischerinnen nach Weisung des Regisseurs ihre Auswahl unter den Aufnahmen trafen, welche die Kameraleute ihnen mit ihren schweren Apparaten auf die Monitorschirme im Regieraum lieferten. Alle Monitoren befanden sich über dem großen Regiepult. Die Tonqualität wurde in einem anderen Raum kontrolliert.

»Wenn bei der Kamera, die auf Sie gerichtet ist, ein Rotlicht zu blinken beginnt, dann ist Ihr Bild ausgewählt und geht direkt in den Äther hinaus. Sie sind dann auf allen Fernsehschirmen, auf denen Focus läuft, zu sehen«, hatte Ross dem Funktionär Woitech erklärt. Nun, da dieser seine Grundsatzerklärung und seine leidenschaftliche Empörung über die Ostpolitik Willy Brandts kundtat, blinkte das Rotlicht der Kamera, welche ihm gegenüber auf einer massigen Säule angebracht war. Die Vorstellung, daß viele Hunderttausende von Menschen im Land ihn sozusagen bei sich in der Stube hatten, brachte Woitech in einen leicht rauschartigen Zustand.

Da das Lämpchen der Kamera vor ihm noch immer zuckte, fügte er hinzu: »Herr Brandt war während des Krieges nicht hier. Wir wissen nicht, was er draußen gemacht hat. Wir waren hier. Wir wissen, was wir hier drinnen gemacht haben. Für meine Freunde und mich jedenfalls sind dies« – hier hob er die Stimme und den runden Kopf – »noch immer heilige Worte ...« Er räusperte sich, blickte ernst direkt in das Objektiv der auf ihn gerichteten Kamera, und man sah, wie seine Augen feucht wurden. »Ich hab’ mich ergeben mit Herz und mit Hand dir, Land voll Lieb und Leben, mein teures Vaterland!«

Während dieser längeren Ausführung, bei der nur Woitech im Bild war, hatte eine Maskenbildnerin Daniel Ross’ Gesicht mit der aufweichenden Schminke frisch abgetupft und besorgt festgestellt, daß der Moderator einen heftigen Schweißausbruch hatte. Tropfen perlten ihm vom Kopf in den Nacken und in den Hemdkragen. Ross’ Lippen bebten. Seine Finger zitterten, er verschränkte die Hände über dem Knie.

»Was ist los?« flüsterte die Maskenbildnerin erschrocken. Der Moderator war bei allen beliebt und geschätzt.

Auf die Frage der jungen Frau schüttelte er nur den Kopf. »Alles in Ordnung?«

Er nickte und machte ein Zeichen, ihn allein zu lassen. Die Maskenbildnerin verschwand hinter der Studiokulisse. Zu den dort stehenden Studioarbeitern und zwei weiteren Gesprächspartnern von Ross, die hier warteten, sagte sie besorgt: »Der hat was. Sollen wir nicht einen Arzt ...«

»Quatsch«, sagte ein Arbeiter. »Das ist dem doch schon ein paar Mal passiert, Olga. Schluckt dauernd Pillen, weißt doch, vor jedem Focus. Die Pillen sind’s. Der braucht keinen Arzt.«

In der Tat hatte Ross schon solche Schweißausbrüche während einer Sendung gehabt, und sie waren, das sah der Arbeiter ganz richtig, auf eine größere Menge des Psychopharmakons Nobilam zurückzuführen, das Ross seit zwölf Jahren regelmäßig jeden Morgen in zu hoher Dosierung einnahm. Vor jeder Focus-Sendung und auch sonst bei allen Gelegenheiten, die große Konzentration und Anspannung erforderten, schluckte er eine zusätzliche Ration. Heute Abend indessen, und er bemerkte es mit größter Nervosität, wirkte das Mittel, das ihn stets beruhigte und sicher machte, verkehrt. Es regte ihn auf. Er fühlte den Schweiß am ganzen Körper, sein Herz klopfte rasend, und blinder Zorn über das, was Woitech da von sich gegeben hatte, erfüllte ihn. Zuletzt hatte der seinem Poem noch die Worte »Armes, geteiltes Vaterland!« hinzugefügt.

Ross neigte sich vor. Auf der Stirn standen schon wieder einzelne Schweißtropfen. In seinem Gesicht zuckte es.

»Ajajajaj«, sagte der Regisseur oben in der Kabine. Er bog das Mikrofon, das vor ihm im Pult steckte, zu sich und sagte: »Zwo, Charley, geh ganz groß an Daniel ran!«

Der Mann hinter der Kamera 2 trug – wie seine Kollegen – Kopfhörer. Gleich darauf erschien Ross’ Gesicht bildfüllend auf einem Monitorschirm.