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»Was geschieht also, wenn ich mich weigere, eine solche Position anzunehmen?«

»Dann mußt du kündigen. Schau mich nicht so an, Mensch!« schrie Colledo. »Verflucht, schau nicht so! Ich bin dein Freund! Einundzwanzig Jahre lang haben wir zusammen gearbeitet. Dir verdanke ich, daß ich auf diesem Sessel sitze. Du hast mich von der SÜDDEUTSCHEN weggeholt, als hier die Stelle frei wurde. Glaubst du, das kann ich je vergessen? Deine gottverdammten Tabletten! mußt du die unbedingt nehmen? Kannst du denn ohne den Dreck nicht leben?«

»Nein«, sagte Ross. »Das kann ich nicht.«

»Verzeih!« sagte Colledo.

Danach schwiegen beide. Sie hörten die an- und wieder abschwellende Sirene einer Ambulanz.

»Wenn ich kündige, bekomme ich dann eine Abfindung?« fragte Ross endlich.

»Nein.«

»Und wenn ich mich nicht versetzen lasse und nicht kündige?«

»Ich habe das schon alles mit dem Intendanten besprochen. Du hast so lange prima gearbeitet, Danny. Der Sender wird dir kündigen. Dann kriegst du eine Abfindung. Aber raus mußt du. In deinem Zustand passiert das nächste Mal wieder so was. Herrgott, was für eine gemeine, dreckige Geschichte! Deine Tabletten! Deine Tablettenfresserei ist schuld an allem! Deine Karriere ruinierst du dir mit dem Zeug, deine Gesundheit, deine Arbeitskraft!«

»Das stimmt nicht«, sagte Ross. Es klang hochmütig. »Ich nehme das Zeug seit zwölf Jahren. Hast du je bemerkt, daß ich deshalb nicht anständig arbeiten konnte? Nie hast du es bemerkt! Ohne das Zeug könnte ich nicht arbeiten.«

»Weil du süchtig bist.«

»Ich bin nicht süchtig. Ich brauche nur mein Quantum. Es wird nicht mehr. Bleibt immer gleich. Was glaubst du, wie viele Menschen Tranquilizer nehmen? Woraus besteht denn unser Leben? Aus Nervosität, Angespanntheit, Angst, es nicht zu schaffen, unbestimmter Angst, Angst vor der nächsten Katastrophe. Angst! Angst! Angst! muß man sich eben helfen, wenn man so veranlagt ist. Du, du bist nicht so veranlagt, sei froh! Viele saufen, du siehst es ja, das ganze Fernsehen geht unter in Schnaps. Andere nehmen Tranquilizer. Ich zum Beispiel.«

»Die Zustände, die du nennst, sind Teile unseres Lebens. Angst ist oft eine wichtige Sicherheitsvorkehrung. Angespanntheit kann die Leistungsfähigkeit erhöhen.«

»Und wenn du den Streß nicht mehr aushältst? Die Hetze? Die Angst? Ach was, das verstehst du ja doch nicht. Ich würde auch lieber saufen, das kannst du mir glauben. Jedermann wäre lieb zu mir. Und so besorgt. Saufen ist erlaubt, Pillen sind verboten.«

»Du kannst die Menschen nicht befreien, aber du kannst ihnen helfen, sich weniger schlecht zu fühlen«, sagte Colledo.

»Was heißt das?«

»Amerikanischer Werbetext für Ärzte. Habe ich gelesen, als ich das letzte Mal in New York war. Soll die Ärzte motivieren, Beruhigungsmittel zu verschreiben – das größte pharmazeutische Geschäft der Welt.«

Ross winkte fahrig ab. »Keine Diskussion, bitte. Ich entschuldige mich heute Abend. Kündigen tue ich jetzt schon.« Er hatte in seiner Hosentasche gewühlt, nun zog er eine Packung Nobilam heraus und ein Blatt bedrucktes Papier. »Nur eines noch: Ich weiß jetzt, warum mir das gestern Abend passiert ist. Kommt unter zehntausend Fällen einmal vor. Ausgerechnet mich. mußte es erwischen.«

»Wovon redest du, verflucht nochmal?«

»Hier!« Ross hielt das Papier hoch. »Das ist ein Waschzettel. Liegt jedem Medikament bei. Auch dem da. Ja, schau es an! Nobilam heißt das Zeug, ohne das ich nicht arbeiten kann – und nicht leben. Schau es dir gut an!«

»Rede nicht so mit mir, Mensch!«

»Entschuldige. Tut mir leid. Wirklich. Paß auf, Conny. Nachdem ... nachdem ich die Sendung geschmissen hatte, fiel mir ein, auf dem Waschzettel einmal etwas gelesen zu haben. Und da steht es! Da steht ...« Ross fuhr mit einem Finger die Zeilen entlang. »Hier!« Er las vor: »›Auf die Möglichkeit einer paradoxen Reaktion, Erregung statt Sedierung‹ – verstehst du? Erregung statt Sedierung! – ›die auch bei vergleichbar sedativ wirkenden Medikamenten einsetzen kann, wird hingewiesen!‹« Ross schlug mit einer Hand auf den Zettel. »Erregung statt Sedierung! Das Zeug hat verkehrt gewirkt heute Abend. Zwölf Jahre nehme ich es, und alles geht gut. Und dann passiert so was. Und natürlich prompt in der Sendung!«

»Danny! Ich bitte dich! Ich bin dein Freund. Ich kann nicht mitansehen, wie du verreckst an dem Zeug. Doch, sei ruhig, verreckst, habe ich gesagt, und das tust du. Jetzt, ohne Job, wird die Angst immer größer werden. Die Unruhe. Die Nervosität. Sei ruhig, unterbrich mich nicht! Denkst du, in unserer Branche hält einer die Schnauze? Was glaubst du, wie viele Kollegen schon wissen von deiner Tablettenfresserei? Die meisten, Danny, die meisten. Und die, die es noch nicht wissen, werden es jetzt erfahren. Laß mal erst die Jungs von der Revolverpresse anfangen! Warte, bis Duweißtschonwer auftaucht! Es wird dir nach dem, was passiert ist, nicht möglich sein, einen anderen Job zu finden in deinem Zustand. Du mußt, hörst du, du muß t ganz einfach eine Entziehungskur machen! Das ist das erste, was du machen mußt. Darum bitte ich dich. Ich flehe dich an, geh in eine Klinik, mach eine Entziehungskur, mir zuliebe, ja, Danny?«

»Nein«, sagte Ross und sah wieder zu Boden. »Aber warum nicht? Warum nicht, Mensch?« »Weil ich schon eine gemacht habe.«

»Du hast schon ...«

»Ja.«

»Wann?«

»Vor zwölf Jahren.«

»Vor zwölf Jahren? Neunzehnhunderteinundsiebzig? Da hast du doch noch das Südosteuropa-Studio in Wien geleitet!«

»Ich habe die Kur in Wien gemacht. Deshalb weißt du nichts davon. Niemand im Haus weiß etwas davon. In Wien, ja. Psychiatrie der Universitätskliniken. Allgemeines Krankenhaus.«

»Aber ... aber ... Du sagst doch, du nimmst dieses Zeug seit zwölf Jahren. Ich versteh’ das nicht. Was haben sie dir denn davor zwölf Jahren entzogen in Wien?«

»Oxazepam«, sagte Ross. »Oxa...«

»Oxazepam. Ein anderes Mittel. Ein sehr gutes. Ich habe es nur ein einziges Jahr lang genommen. Viel zu viel. Von dem Oxazepam mußte ich wirklich runter. Das ging nicht mehr weiter. So was wie heute Abend hätte damals jeden Tag passieren können.«

»Und da haben sie dir vor zwölf Jahren dann Nobilam gegeben anstelle von Oxazepam?«

»Ja«, sagte Ross. »Und vor dem Oxazepam habe ich sieben Jahre lang Valium genommen.«

Colledo flüsterte: »Und nach sieben Jahren Valium hast du schon eine Entziehungskur gemacht?«

»Ja. Auch in Wien. Auch Allgemeines Krankenhaus. Großartige Leute. Sie haben erkannt, daß ich mein verrücktes Leben ohne irgendein Mittel einfach nicht ertragen kann. Nicht ertragen kann! Deshalb haben sie versucht, mich stufenweise zu entziehen. Deshalb bekam ich also Nobilam. Was hast du, Conny? Conny, was ist los mit dir?«

Colledo war aufgestanden und an eines der nachtdunklen Fenster getreten. Sein Büro lag im achten Stock des Gebäudes. Er sah hinüber auf den grandiosen Lichterteppich von Frankfurt. Regen schlug gegen die Scheibe.

»Mein Gott«, sagte er erstickt, »was bist du für ein armer Hund.«

Wieder folgte Schweigen.

Dann sagte Colledo, auf die Millionen bunten Lichter der Stadt in der Ferne blickend: »Geh wieder nach Wien, Danny! Bitte! Geh wieder zu diesen Spezialisten! Mach wieder eine Kur!«

»Nein«, sagte Ross, und seine Stimme klang plötzlich hart. »Nein, ich gehe nicht nach Wien. Niemals.«

»Aber warum nicht? Warum nicht, Danny?« »Weil dort die einzigen arbeiten, zu denen ich Vertrauen

habe, die mich kennen, die wissen, was mit mir los ist.« »Du meinst: Deshalb gehst du zu niemand anderem?« »Ja.«

»Ich verstehe nicht. Aber warum dann nicht nach Wien? Zu deinen Freunden, zu dem Arzt, der dein Vertrauen hat, der dich so gut kennt. Warum nicht, Danny? Warum nicht?«

»Es ist kein Arzt«, sagte Ross, sehr leise. »Es ist eine Ärztin. Und ich ... ich schäme mich zu sehr vor ihr.«

Da waren Wärme, goldenes Licht und Stille. Da waren Wolken, silbern, gewaltig, phantastisch geformt.

Und da war keine Sorge mehr, keine Mühsal, keine Eile, keine Traurigkeit. Da war keine Angst mehr, nein, keine Angst.