Delamere blickte ihn giftig an, sagte aber nichts mehr und auch Mike schwieg. Die Heftigkeit von Delameres Reaktion überraschte ihn und er verstand sie auch nicht wirklich. Konnte es sein, dass der Belgier etwas verschwieg?
Nach einer Weile drehte sich Delamere langsam herum und begann in den Krater hinabzuklettern.
»Was haben Sie vor?«, rief Mike ihm nach. »Ich mache mich ein bisschen am Krater zu schaffen«, antwortete Jacques gereizt. »Mal sehen, ob ich nicht einen kleinen Ausbruch provozieren kann!« Mike zog es vor, nicht darauf zu antworten. Delamere hatte wirklich Nerven, sich in diesem Moment um seine wissenschaftliche Arbeit zu kümmern! Er verscheuchte den Gedanken, zog das Sprechgerät unter dem Hemd hervor und wartete, bis Trautman sich meldete.
»Haben Sie etwas herausgefunden?«, begann er übergangslos.
»Eine Menge«, antwortete Trautman. »Aber es ist nicht viel Gutes dabei.« »Was soll das heißen?«
Selbst über die schlechte Verbindung hinweg war die Sorge in Trautmans Stimme nicht zu überhören. Vielleicht war es aber auch Zorn, denn er fuhr fort: »Nachdem ich wusste, in welcher Sprache es abgefasst war, ist es mir gelungen, einen Teil seines Notizbuches zu entziffern. Unser neuer Freund hat uns das eine oder andere verschwiegen, scheint mir.« Mike warf einen nachdenklichen Blick zum Krater hinab. Delamere kniete am Ufer und grub mit bloßen Händen im Schlamm. Eine etwas sonderbare Art, wissenschaftliche Untersuchungen vorzunehmen, fand Mike. »Und was?«
»Der unterseeische Ausbruch, den wir miterlebt haben«, antwortete Trautman. »Erinnerst du dich?« »Flüchtig«, sagte Mike spöttisch. »Das war kein Zufall«, fuhr Trautman fort. »Ich konnte nicht alles entziffern, aber wie es aussieht, hängen all diese Vulkane irgendwie zusammen. Ich fürchte, dass sie der Reihe nach ausbrechen werden. Der Unterseevulkan, die Insel, auf der wir Delamere gefunden haben ...« »Und diese Insel«, murmelte Mike.
»Ich fürchte«, bestätigte Trautman. »Wie gesagt, ich konnte nicht alles entziffern. Aber die Wassertemperatur ist in den letzten beiden Stunden spürbar angestiegen und wir haben eine Reihe kleinerer Seebeben registriert. Ich an eurer Stelle würde mir nicht mehr allzu viel Zeit lassen.«
»Wir müssen warten, bis es dunkel ist«, sagte Mike. »Vorher haben wir keine Chance. Sie würden uns sehen.«
»Du hast mich anscheinend nicht richtig verstanden«, antwortete Trautman. »Wenn das, was in diesem Buch steht, eintrifft, dann fliegt diese ganze Insel in die Luft! Es geht nicht mehr nur noch um Delameres Leute! Wir müssen die Pahuma in Sicherheit bringen.«
Mike erschrak. »Was?!«
»Du hast gesehen, was passieren kann«, antwortete Trautman. »Wenn der Ausbruch hier genauso heftig wird wie der auf Delameres Insel, bleibt von den Eingeborenen keiner am Leben! Du musst sie warnen!« Mike schob sich wieder über den Kraterrand und sah auf das Eingeborenendorf hinab. Bisher hatte er sich keine wirklichen Sorgen gemacht, sondern war davon ausgegangen, dass es ihnen mit Astaroths Hilfe irgendwie gelingen würde, unentdeckt in das Dorf zu kommen und die Gefangenen zu befreien. Jetzt war die Lage plötzlich viel komplizierter. »Also gut«, seufzte er. »Uns wird schon etwas einfallen. Ich melde mich wieder.« Er steckte das Sprechgerät ein und tauschte einen besorgten Blick mit Singh. Der Inder hatte seine kurze Unterhaltung mit Trautman natürlich mitbekommen und sah ebenso erschrocken und verwirrt drein, wie er sich fühlte. Warum hatte Delamere ihnen das alles verschwiegen?
Es gab nur einen, der diese Frage beantworten konnte. Mike winkte Delamere zu und wartete ungeduldig, bis der Belgier sich endlich von seiner anscheinend so unsinnigen Tätigkeit losgerissen hatte und wieder zu ihnen heraufkam. »Was ist los?«, fragte Jacques. »Das frage ich Sie«, antwortete Mike. »Es steht also kein großer Ausbruch bevor, wie?« »Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Delamere. Er wirkte plötzlich sehr nervös. »Ich sagte, nichtunmittelbar.Das ist ein Unterschied.« »Sie haben also gewusst, dass auch dieser Vulkan ausbrechen wird«, sagte Singh schockiert. »Was hatten Sie vor? Wollten Sie die Eingeborenen einfach ihrem Schicksal überlassen?«
»Niemand kann genau sagen, ob und wann der Vulkan ausbricht«, verteidigte sich Jacques. »Die Pahuma leben seit Jahrhunderten mit dieser Gefahr. Sie kennen sie besser als ich. Was sollte ich tun? Sie hätten sowieso nicht auf mich gehört!« Singh wollte auffahren, doch nun war es Mike, der ihn mit einem raschen Blick zur Ruhe brachte. »Dann sagen Sie uns wenigstens jetzt die Wahrheit«, sagte er mit mühsam erzwungener Ruhe in seiner Stimme. »Wie viel Zeit bleibt uns noch?« Jacques lachte leise. »Genug, Junge«, sagte er. »Wir wären bestimmt nicht hier, wenn ich ernsthaft damit rechnen würde, dass uns der Krater gleich um die Ohren fliegt. Es kann noch Tage dauern, bis der große Ausbruch kommt. Vielleicht sogar Wochen.« »Aber er kommt«, hakte Mike nach. Jacques zuckte die Achseln. »Niemand kann das mit Sicherheit sagen.«
»Was muss ich tun um eine klare Antwort von Ihnen zu bekommen?«, seufzte Mike. »Eine klare Antwort? Von einem Wissenschaftler?« Delamere lachte noch lauter. »Du hast eine Menge Humor, Junge!« »Und er ist gleich erschöpft«, grollte Mike.
Der Boden erbebte. Diesmal war es kein sachtes Zittern, sondern ein harter Schlag, der sie alle fast aus dem Gleichgewicht brachte und eine ganze Lawine kleiner Steine und Lavabrocken in den Krater hinunterrollen ließ. Das gleiche, dumpfe Grollen erklang, das sie vorhin schon einmal gehört hatten. Aber diesmal hörte es nicht wieder auf, sondern steigerte sich zu einem immer lauter und lauter werdenden Donnern und Dröhnen. Es hörte sich an, als stürzten tief unter der Erde ganze Gebirge zusammen. Feuerschein erfüllte den Himmel. Mike sah erschrocken hoch, und was er erblickte, das ließ ihm für einen Moment den Atem stocken. Der ganze Horizont schien in Flammen zu stehen. Der Ozean war geborsten und schleuderte Feuer und schwarzen Qualm in den Himmel. Ein weiterer, unterseeischer Vulkan war ausgebrochen. Mike glaubte nicht, dass er mehr als zwanzig oder dreißig Meter entfernt war.
»So«, seufzte er. »Wir haben also noch Tage Zeit, wie? Vielleicht sogar Wochen?«
Delamere biss sich auf die Unterlippe. Aber er antwortete nicht.
Sie mussten nicht warten, bis die Sonne unterging. Der Vulkan spie weiter Feuer und Asche in den Himmel, sodass der Tag binnen weniger Minuten einer frühzeitig hereinbrechenden, pechschwarzen Nacht wich. Die Luft roch durchdringend nach Schwefel und Feuer und auch der Boden unter ihren Füßen hörte nicht auf zu zittern.
Mike hatte sich kurz mit Trautman besprochen. Der Plan, den sie ausgearbeitet hatten, war riskant, aber es ging hier um Menschenleben. Und der neuerliche Ausbruch im Meer hatte ihnen allen klargemacht, dass ihnen vermutlich viel weniger Zeit blieb, als sie bisher angenommen hatten.
»Also dann«, sagte er. »Gehen wir. Und bewahren Sie Ruhe, Jacques -ganz egal, was passiert.Überlassen Sie Singh und mir das Reden.« Delamere machte ein finsteres Gesicht, schluckte aber jeden Kommentar hinunter. Er hatte kein Wort über Mikes Vorhaben verloren, aber das war auch nicht nötig. Er hatte Angst, ins Dorf der Pahuma zurückzukehren. Mike fragte sich nur, warum.Astaroth?
Der Kater antwortete sofort. Er war vor einer halben Stunde
ins Dorf der Pahuma eingedrungen.Sie sind ziemlich nervös,sagte er.Seid vorsichtig, wenn ihr euch nähert.
Diese Warnung, fand Mike, war höchst überflüssig. Jeder wäre nervös, wenn der Berg, auf dem er lebte, allmählich auseinander zu brechen begann. Er antwortete auch nicht auf Astaroths Worte, sondern stand auf und trat mit einem raschen Schritt über den Kraterrand. Singh und Delamere folgten ihm. Da der Boden unter ihnen immer noch zitterte und bebte, erwies es sich als äußerst schwierig, auf dem abschüssigen Hang aus zum Teil spiegelglatter Lava zu gehen. Sie konnten sich nur langsam und mit großer Vorsicht bewegen. Mike sah immer wieder aufs Meer hinaus. Der Horizont war hinter einer schwarzen Wand verschwunden, in der ein gleißendes, rotgelbes Licht loderte; es wirkte wie ein Tor zur Hölle.