Er legte den Dolch in die Truhe, genau in die Krümmung des Horns — er hatte gerade Platz darin —, und schloß den Deckel. Das Schloß schnappte hörbar zu. »Das sollte uns davor beschützen.« Er hoffte es wenigstens. Lan hatte gesagt, wenn man am unsichersten sei, müsse man am sichersten wirken. »Die Truhe wird uns auf jeden Fall schützen«, sagte Selene mit angespannter Stimme. »Und jetzt möchte ich die letzten Stunden Schlaf in dieser Nacht genießen.«
Rand schüttelte den Kopf. »Wir sind ihnen zu nahe. Fain scheint manchmal in der Lage zu sein, mich aufzuspüren.«
»Sucht das Einssein, wenn Ihr Angst habt«, sagte Selene.
»Ich möchte am Morgen so weit wie möglich von diesen Schattenfreunden entfernt sein. Ich werde Eure Stute satteln.«
»Einfach stur!« Sie klang wütend, aber als er sie anblickte, verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln, das allerdings die dunklen Augen nicht erreichte. »Ein halsstarriger Mann ist am besten, wenn er einmal... « Ihre Stimme verklang, und das bereitete ihm Kopfzerbrechen. Frauen schienen gewisse Dinge immer ungesagt zu lassen, und in seiner begrenzten Erfahrung mit ihnen hatte er festgestellt, daß gerade das, was sie nicht sagten, oft die größten Schwierigkeiten bereitete. Sie sah schweigend zu, als er ihren Sattel auf den Rücken der weißen Stute schnallte und sich bückte, um den Sattelgurt anzuziehen.
»Hol sie alle her!« fauchte Fain. Der Trolloc mit der Ziegenschnauze schob sich von ihm weg nach hinten von ihm weg. Das Feuer, mittlerweile hoch mit Holz aufgefüllt, beleuchtete die Hügelkuppe. Schatten huschten über Fain hinweg. Seine menschlichen Anhänger kauerten am Feuer und fürchteten sich davor, draußen im Dunklen sein zu müssen, wo sich der Rest der Trollocs befand.
»Hol sie her, jeden, der noch lebt! Und wenn sie weglaufen wollen, dann erzähl ihnen, was mit dem hier geschah.« Er deutete auf den ersten Trolloc, der ihm die Nachricht überbracht hatte, daß sie al'Thor nicht finden konnten. Seine Schnauze öffnete und schloß sich krampfartig auf dem blutverschmierten Boden, und seine Hufe rissen zuckend Furchen in den Boden. »Geh!« flüsterte Fain, und der Trolloc mit der Ziegenschnauze rannte in die Nacht hinaus.
Fain sah die anderen Menschen verächtlich an. Sie können immer noch nützlich sein. Dann drehte er sich um und blickte in die Nacht hinaus in Richtung Brudermörders Dolch. Al'Thor befand sich irgendwo dort oben in den Bergen. Mit dem Horn. Bei dem Gedanken knirschte er hörbar mit den Zähnen. Er wußte nicht genau, wohin, aber irgend etwas zog ihn zu den Bergen hinauf. Zu al'Thor. Soviel war ihm vom —Geschenk des Dunklen Königs geblieben. Er hatte kaum noch daran gedacht, hatte sich bemüht, nicht daran zu denken, bis plötzlich, als das Horn weg war — weg! —, al'Thor da war und ihn anzog, wie Fleisch einen halb verhungerten Hund.
»Ich bin kein Spürhund mehr. Kein Hund mehr!« Er hörte, wie sich die anderen unruhig am Feuer bewegten, aber er beachtete sie nicht. »Du wirst dafür bezahlen, was du mir angetan hast, al'Thor! Die Welt wird dafür bezahlen!« Sein wahnwitziges Lachen gackerte durch die Nacht. »Die Welt wird dafür bezahlen!«
20
Saidin
Rand zog mit ihnen durch die Nacht und erlaubte ihnen lediglich eine kurze Rast bei Sonnenaufgang, um den Pferde eine Rast zu gönnen. Und er mußte auch Loial eine Pause gewähren. Da das Horn von Valere in seiner Gold-und-Silber-Truhe seinen Sattel in Anspruch nahm, ging oder lief der Ogier ohne Klagen vor seinem großen Pferd her. Er hielt sie auch nicht auf. Irgendwann in der Nacht hatten sie die Grenze nach Cairhien überquert.
»Ich möchte es wieder anschauen«, sagte Selene, als sie anhielten. Sie stieg ab und ging zu Loials Pferd hinüber. Ihre langen blassen Schatten zeigten nach Westen. Die Sonne blinzelte gerade eben über den Horizont. »Heb es mir herunter, Alantin!« Loial löste, die Schnallen. »Das Horn von Valere.«
»Nein«, sagte Rand und kletterte vom Rücken des Braunen. »Nein, Loial.« Der Ogier blickte von Rand zu Selene. Seine Ohren zuckten zweifelnd, aber er nahm die Hände weg.
»Ich möchte das Horn sehen«, verlangte Selene. Rand war sicher, daß sie nicht älter war als er selbst, aber in diesem Moment erschien sie ihm so alt und so kalt wie die Berge und majestätischer als Königin Morgase, wenn sie besonders streng war.
»Ich glaube, wir sollten den Dolch in seiner Verwahrung belassen«, sagte Rand. »Nach alledem, was ich gehört habe, kann es genauso gefährlich sein, ihn anzuschauen, wie ihn zu berühren. Laßt ihn, wo er ist, bis ich ihn in Mats Hände legen kann. Er... er kann ihn zu den Aes Sedai bringen.« Und was werden sie für diese Heilung verlangen? Doch er hat keine andere Wahl. Er fühlte sich ein wenig schuldig, weil er Erleichterung empfand, daß zumindest er nichts mehr mit den Aes Sedai zu tun haben mußte. Ich bin mit ihnen fertig. So oder so.
»Der Dolch! Alles, was Ihr im Kopf zu haben scheint, ist dieser Dolch. Ich sagte Euch doch, daß Ihr ihn loswerden müßt. Das Horn von Valere, Rand!«
»Nein.«
Sie kam mit einem Hüftschwung auf ihn zu, und er hatte das Gefühl, ihm sei etwas in der Kehle steckengeblieben. »Ich will es lediglich bei Tageslicht sehen. Ich werde es nicht einmal berühren. Ihr haltet es. Das bliebe mir in Erinnerung — Ihr mit dem Horn von Valere in den Händen.« Beim Sprechen nahm sie seine Hände in die ihren. Bei ihrer Berührung prickelte seine Haut, und der Mund trocknete ihm aus. Etwas, woran sie sich erinnern würde — wenn sie weg war... Er konnte den Deckel sofort wieder über dem Dolch schließen, wenn er das Horn aus der Truhe genommen hatte. Es wäre schon etwas, das Horn in Händen zu halten und es bei Tageslicht zu betrachten.
Wenn er nur mehr über die Prophezeiungen des Drachen gewußt hätte! Als er einmal gehört hatte, wie der Leibwächter eines Kaufmanns in Emondsfeld etwas davon erzählte, hatte Nynaeve dem Mann einen Besen um die Ohren gehauen, bis der Stiel abbrach. In dem wenigen, das er gehört hatte, war nichts über das Horn von Valere vorgekommen.
Die Aes Sedai wollen mich dazu bringen, daß ich tue, was sie wünschen. Selene sah ihm immer noch eindringlich in die Augen. Ihr Gesicht war so jung und schön, daß er sie am liebsten geküßt hätte — trotz seines mißtrauischen Gedankengangs. Niemals hatte sich eine Aes Sedai so benommen wie sie. Und sie sah so jung aus, nicht alterslos... Ein Mädchen meines Alters kann doch keine Aes Sedai sein. Aber...
»Selene«, fragte er leise, »seid Ihr doch eine Aes Sedai?«
»Aes Sedai«, fauchte sie fast. Sie stieß seine Hände weg. »Aes Sedai! Immer müßt Ihr mir das vorwerfen!« Sie holte tief Luft und strich ihr Kleid glatt, als wolle sie sich damit beruhigen. »Ich bin, was oder wer ich eben bin. Und ich bin keine Aes Sedai!«
Und dann hüllte sie sich in eine lautlose Kälte, gegen die selbst die Morgensonne kalt war.
Loial und Hurin ertrugen alles so gelassen, wie sie es vermochten, bemühten sich um eine Unterhaltung und verbargen ihre Verlegenheit, bis ihr Blick sie zum Schweigen brachte. Sie ritten weiter.
Als sie an diesem Abend ihr Lager neben einem Bergbach aufschlugen, der ihnen Fisch zum Abendessen bescherte, schien Selene sich wieder so weit in der Gewalt zu haben, daß sie mit dem Ogier über Bücher sprechen und freundlich mit Hurin plaudern konnte. Allerdings sprach sie kaum mit Rand; höchstens wenn er sie ansprach. Das war so an diesem Abend und den ganzen nächsten Tag über, während sie in den Bergen umherritten, die wie riesige gezackte graue Mauern neben ihnen aufragten. Es ging unaufhörlich aufwärts. Aber immer wenn er sie ansah, stellte er fest, daß sie ihn beobachtete und lächelte. Manchmal war es ein Lächeln, das ihn ermunterte, zurückzulächeln, manchmal allerdings mußte er sich räuspern und ob der eigenen Gedanken erröten, und manchmal war es das geheimnisvolle, wissende Lächeln, das er auch bei Egwene gelegentlich gesehen hatte. Bei dieser Art von Lächeln versteifte sich sein Rücken — aber wenigstens war es ein Lächeln.