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Er sah, daß ihn alle anstarrten. Selene, Hurin, Loial, alle. »Was ist geschehen?« Das Nichts... Er faßte sich an die Stirn. Das Nichts hatte sich nicht verflüchtigt, als er es losließ, und das Glühen von Saidin war stärker geworden und... Er konnte sich an nichts weiter erinnern. Saidin. Ihm war kalt. »Habe ich... etwas angestellt?« Er runzelte die Stirn im Bemühen, sich zu erinnern. »Habe ich etwas gesagt?«

»Du hast lediglich steif wie eine Statue dagesessen«, sagte Loial, »und Selbstgespräche geführt. Ich konnte nicht verstehen, was du sagtest, bis du schließlich so laut ›Tag‹ geschrien hast, daß du damit Tote hättest erwecken können und dein armes Pferd beinahe über die Kante gescheucht hättest. Bist du krank? Du benimmst dich jeden Tag eigenartiger.«

»Ich bin nicht krank«, sagte Rand grob, fügte aber schnell besänftigend hinzu: »Es geht mir gut, Loial.« Selene betrachtete ihn mißtrauisch.

Aus der Grube erklangen Rufe der Männer. Die Worte waren nicht zu verstehen. »Lord Rand«, sagte Hurin, »ich glaube, diese Wachen haben uns mittlerweile entdeckt. Wenn sie einen Weg hier herauf kennen, können sie jede Minute da sein.«

»Ja«, sagte Selene, »laßt uns schnell weiterreiten.«

Rand blickte in die Grube und dann schnell wieder weg. In dem großen Kristall war nichts als das reflektierte Licht der Abendsonne zu sehen, aber er wollte nicht hinschauen. Er konnte sich beinahe erinnern... Da war etwas mit der Kugel gewesen. »Ich sehe keinen Anlaß, auf sie zu warten. Wir haben nichts angestellt. Suchen wir uns eine Schenke.« Er drehte den Braunen zum Dorf hin, und bald ließen sie die Grube und die rufenden Männer hinter sich zurück.

Wie viele Dörfer lag Tremonsien auf der Kuppe eines Hügels, aber wie schon bei den Bauernhöfen, an denen sie vorbeigekommen waren, hatte man auch hier den Hügel mit Hilfe von Trennmauern in Terrassen unterteilt. Steinhäuser mit quadratischem Grundriß standen auf immer gleichen Grundstücken mit immer gleichen Gärten dahinter. Ein paar gerade Straßen kreuzten sich genau im rechten Winkel.

Die Menschen schienen offen und freundlich zu sein. Sie blieben stehen und nickten einander zu, während sie in Eile die letzten Arbeiten vor Beginn der Nacht verrichteten. Es waren kleine Leute — keiner reichte Rand über die Schulter, und nur wenige waren so groß wie Hurin — mit dunklen Augen und blassen, schmalen Gesichtern. Sie waren dunkel gekleidet, bis auf ein paar, die farbige Schärpen über der Brust trugen. Küchengerüche erfüllten die Luft — Rand kannte die Gewürze nicht —, obwohl einige Frauen immer noch über ihre Türen gelehnt standen und miteinander plauderten. Die Türen waren geteilt, so daß der obere Teil offenstehen konnte, während der untere geschlossen blieb. Die Menschen musterten die Neuankömmlinge neugierig. Es gab kein Anzeichen von Feindseligkeit. Ein paar betrachteten Loial etwas länger — einen Ogier, der neben einem Pferd einherschritt, das so groß war wie ein Dhurranhengst —, aber nie so, daß es unhöflich wirkte.

Die Schenke auf der Kuppe des Hügels war auch ein Steingebäude wie alle im Dorf, und sie war deutlich durch ein bemaltes Schild gekennzeichnet, das über der breiten Eingangstür hing. ›Zu den Neun Ringen.‹ Rand schwang sich lächelnd aus dem Sattel und band den Braunen an einem der beringten Pfosten vor dem Gebäude fest. ›Die Neun Ringe‹ war seine Lieblingsgeschichte gewesen, als er noch ein Junge war, und war es wohl immer noch.

Selene machte immer noch einen unruhigen Eindruck, als er ihr beim Absteigen behilflich war. »Fühlt Ihr Euch wohl?« fragte er. »Ich habe Euch dort hinten doch wohl keine Angst eingejagt, oder? Der Braune würde nie mit mir über eine Klippe stürzen.« Er fragte sich, was wirklich geschehen war.

»Ihr habt mir Angst eingejagt«, sagte sie mit angespannter Stimme, »und ich ängstige mich nicht so leicht. Ihr hättet Euch selbst umbringen können... « Sie strich sich über das Kleid. »Reitet mit mir weiter. Heute abend. Jetzt gleich. Bringt das Horn mit, und ich werde immer an Eurer Seite bleiben. Denkt darüber nach. Ich an Eurer Seite und das Horn von Valere in Euren Händen. Und ich verspreche Euch, das ist nur der Anfang. Was könntet Ihr noch mehr wünschen?«

Rand schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht, Selene. Das Horn... « Er sah sich um. Ein Mann blickte gegenüber aus dem Fenster und zog dann die Vorhänge zu. Der Abend senkte sich über die Straßen, und außer Loial und Hurin war niemand zu sehen. »Das Horn gehört mir nicht. Das habe ich Euch doch gesagt.« Sie wandte ihm den Rücken zu. Ihr weißer Umhang trennte ihn von ihr wie eine Mauer.

21

Die Neun Ringe

Rand erwartete einen leeren Schankraum, da die Leute um diese Zeit gewöhnlich beim Abendessen saßen, doch an einem Tisch saß ein halbes Dutzend Männer vor Bierseideln und würfelte. Ein anderer Mann saß abseits von ihnen und aß. Obwohl die Würfelspieler keine sichtbaren Waffen und Rüstungen trugen und nur in einfache dunkelblaue Mäntel und Kniebundhosen gekleidet waren, verriet ihre Haltung, daß es Soldaten waren. Rands Blick wanderte hinüber zu dem einzelnen Mann. Er war Offizier. Seine hohen Schaftstiefel waren oben umgeschlagen, und das Schwert hatte er an den Tisch neben seinem Stuhl gelehnt. Ein roter und ein gelber Streifen zogen sich quer über die Brust seines blauen Mantels von Schulter zu Schulter. Über der Stirn waren die Haare wegrasiert, hinten hingen sie ihm hingegen lang und schwarz herunter. Die Haare der Soldaten waren ganz kurz, als habe man sie alle unter der gleichen Schüssel abgeschnitten. Alle sieben wandten sich um, als Rand und seine Gefährten eintraten.

Die Wirtin war eine hagere Frau mit langer Nase und ergrautem Haar, aber ihre Falten schienen eher vom Lächeln herzurühren als vom Kummer. Sie kam herbei und wischte sich die Hände an der blütenweißen Schürze ab. »Einen guten Abend wünsche ich Euch« — ein schneller Blick erfaßte Rands goldbestickten roten Mantel und Selenes vornehmes weißes Kleid —, »mein Lord, meine Lady. Ich heiße Maglin Madwen, Euer Lordschaft.

Seid willkommen in den ›Neun Ringen‹. Und ein Ogier. Nicht viele Eurer Rasse kommen hierher, Freund Ogier. Kommt Ihr vielleicht vom Stedding Tsofu?«

Loial brachte es trotz des Gewichts der Truhe fertig, sich halb zu verbeugen. »Nein, gute Wirtin. Ich komme aus der anderen Richtung, von den Grenzlanden her.«

»Von den Grenzlanden sagt Ihr? Aha. Und Ihr, Eure Lordschaft? Vergebt mir meine Neugier, aber Ihr seht nicht so aus wie jemand aus den Grenzlanden. Nichts für ungut.«

»Ich komme von den Zwei Flüssen, Frau Madwen. Das liegt in Andor.« Er sah Selene an. Sie schien über ihn hinwegzublicken und gerade noch anzuerkennen, daß dieser Schankraum mit seinen Gästen existierte. »Lady Selene kommt aus Cairhien, aus der Hauptstadt selbst, und ich komme aus Andor.«

»Wie Ihr sagt, Eure Lordschaft.« Frau Madwens Blick huschte zu Rands Schwert hinunter. Die Bronzereiher auf Scheide und Knauf waren deutlich sichtbar. Sie runzelte leicht die Stirn, aber einen Augenblick später hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Ihr wünscht sicher ein Mahl für Euch, Eure schöne Lady und Euer Gefolge. Und Zimmer, schätze ich. Ich werde dafür sorgen, daß Eure Pferde versorgt werden. Ich habe einen guten Tisch für Euch, gleich hier drüben, und Schweinefleisch mit gelbem Pfeffer auf dem Feuer. Sucht Ihr auch nach dem Horn von Valere, Eure Lordschaft, Ihr und Eure Lady?«

Rand war gerade dabei, ihr zum Tisch zu folgen, und stolperte fast bei dieser Bemerkung. »Nein! Wieso glaubt Ihr das?«

»Nichts für ungut, Eure Lordschaft. Hier kamen schon zwei durch letzten Monat, und beide wie die Helden aufgeputzt. Nicht, daß ich etwas dergleichen über Euch andeuten möchte, Eure Lordschaft. Hier kommen nicht viele Fremde her, außer den Händlern aus der Hauptstadt, die hier Hafer und Gerste kaufen. An sich hatte ich nicht geglaubt, daß die Jäger bereits Illian verlassen haben, aber vielleicht glauben einige, sie brauchten den Segen nicht und könnten den anderen zuvorkommen, wenn sie darauf verzichten.«