»Wir jagen nicht nach dem Horn, gute Frau.« Rand sah das Bündel in Loials Armen nicht an. Die buntgestreifte Decke hing dem Ogier über die kräftigen Arme und verbarg die Truhe recht gut. »Ganz sicher nicht. Wir sind auf dem Weg zur Hauptstadt.«
»Wie Ihr meint, Eure Lordschaft. Verzeiht meine Frage, aber geht es Eurer Lady gut?«
Selene sah sie an und sagte zum erstenmal etwas: »Es geht mir recht gut.« Ihre Stimme ließ die Atmosphäre im Raum einfrieren. Für einen Augenblick lang erstarrte jede Unterhaltung.
»Ihr stammt nicht aus Cairhien, Frau Madwen«, sagte Hurin plötzlich. So, wie er beladen war mit Satteltaschen und Bündeln, wirkte er wie ein wandelnder Gepäckwagen. »Verzeihung, aber Ihr sprecht nicht wie jemand aus Cairhien.«
Frau Madwens Augenbrauen hoben sich. Sie sah schnell zu Rand hinüber und lächelte dann. »Ich hätte wissen sollen, daß Ihr Euren Mann frei sprechen laßt, aber ich habe mich so daran gewöhnt, daß... « Ihr Blick huschte hinüber zu dem Offizier, der sich wieder seiner Mahlzeit zugewandt hatte. »Licht, nein, ich komme nicht aus Cairhien, aber ich habe hierher geheiratet. Dreiundzwanzig Jahre lang habe ich mit ihm zusammengelebt, und als er starb — das Licht leuchte ihm —, wollte ich gern nach Lugard zurückzukehren, aber wer zuletzt lacht... Er hinterließ mir die Schenke, und das Geld bekam sein Bruder. Dabei war ich so sicher gewesen, es werde andersherum kommen. Ein ausgefeimter Bursche war mein Barin, wie alle Männer, die ich kennengelernt habe, und besonders die aus Cairhien. Nehmt Ihr bitte Platz, Eure Lordschaft, Lady?«
Die Wirtin blickte überrascht drein, als sich Hurin an denselben Tisch mit ihnen setzte. Es schien, ein Ogier sei eine Ausnahme, aber Hurin hielt sie auf jeden Fall für einen Diener. Nach einem weiteren schnellen Blick zu Rand hinüber eilte sie in die Küche, und bald kamen Serviererinnen herein und trugen das Mahl auf. Die Mädchen kicherten nervös und starrten den Lord, die Lady und den Ogier an, bis Frau Madwen sie wieder an die Arbeit scheuchte.
Anfangs betrachtete Rand zweifelnd, was er da auf dem Teller hatte. Das Schweinefleisch war in kleine Stücke geschnitten und schwamm zwischen langen Schnitten gelben Pfeffers, Erbsen und anderen Gemüsen, die er nicht kannte, in einer klaren dicken Sauce. Sie roch gleichzeitig süß und scharf. Selene stocherte nur in ihrem Teller herum, aber Loial aß mit herzhaftem Appetit.
Hurin grinste Rand über seine Gabel hinweg an. »Sie verwenden eigenartige Gewürze, Lord Rand, aber es schmeckt trotzdem nicht schlecht.«
»Es wird nicht zurückbeißen, Rand«, fügte Loial hinzu.
Rand aß zögernd ein wenig und ließ es vor Überraschung beinahe wieder aus dem Mund fallen. Es schmeckte so, wie es roch: gleichzeitig süß und scharf. Das Schweinefleisch war außen knusprig und innen zart, schmeckte nach einem Dutzend verschiedener Gewürze, und alle ergänzten sich und blieben dennoch erhalten. Er hatte noch nie etwas ähnliches im Mund gehabt. Es schmeckte wunderbar. Er leerte seinen Teller, und als Frau Madwen mit den Serviererinnen kam, um abzuräumen, hätte er beinahe so wie Loial um einen Nachschlag gebeten. Selenes Teller war noch halb voll, und sie bedeutete einem Mädchen knapp, ihn mitzunehmen.
»Aber gern, Freund Ogier.« Die Wirtin lächelte. »Einer wie Ihr braucht eine ganze Menge, um satt zu werden. Catrine, bring noch einen Teller voll und mach schnell!« Eines der Mädchen eilte davon. Frau Madwen wandte sich lächelnd Rand zu. »Lord Rand, ich hatte hier einen Mann, der Zither spielte, aber er hat ein Bauernmädchen von einem entfernten Hof geheiratet, und nun darf er die Zügel hinter dem Pflug zupfen. Ich sah zufällig, daß etwas aus dem Bündel Eures Mannes ragte, was wie ein Flötenkasten aussah. Da mein Musikant nicht mehr da ist, würdet Ihr vielleicht Eurem Mann erlauben, uns mit ein wenig Musik zu erfreuen?«
Hurin blickte verlegen drein. »Er spielt nicht«, erklärte Rand, »sondern ich.«
Die Frau riß die Augen auf. Anscheinend spielte ein Lord keine Flöte, jedenfalls nicht in Cairhien. »Ich ziehe meinen Wunsch zurück, Lord Rand. Bei der Wahrheit des Lichts, ich wollte Euch nicht kränken, das schwöre ich. Ich bäte niemals jemanden wie Euch, in einem Schankraum zu spielen.«
Rand zögerte nur einen Augenblick. Es war schon zu lange her, daß er statt mit dem Schwert mit der Flöte geübt hatte, und die Münzen in seiner Tasche würden auch nicht ewig reichen. Wenn er endlich seine vornehme Kleidung los war — nachdem er Ingtar das Horn und Mat den Dolch gegeben hatte —, würde er die Flöte brauchen, um sich wieder sein Essen zu verdienen, während er nach einem Ort suchte, an dem er vor den Aes Sedai sicher war. Und auch vor mir selbst sicher? Irgend etwas ist dort hinten geschehen. Aber was?
»Es macht mir nichts aus«, sagte er. »Hurin, gib mir den Behälter. Zieh ihn einfach raus.« Es war nicht nötig, den Umhang des Gauklers zu zeigen. Ohnedies erschienen schon genügend unausgesprochene Fragen in Frau Madwens dunklen Augen. Das mit Gold und Silber verzierte Instrument sah so aus, als könne es wirklich nur von einem Lord gespielt werden, falls es irgendwo Lords gab, die Flöte spielten. Der in seine rechte Handfläche eingebrannte Reiher machte ihm beim Spielen keine Schwierigkeiten. Selenes Salbe hatte so gut geholfen, daß er gar nicht mehr an das Brandzeichen gedacht hatte, bis es ihm jetzt wieder zu Bewußtsein kam. Jetzt mußte er daran denken, und deshalb spielte er unbewußt den ›Reiherflug‹.
Hurin nickte mit dem Kopf im Takt des Liedes, und Loial schlug den Takt mit einem dicken Finger auf dem Tisch. Selene sah Rand an, als frage sie sich, wer er überhaupt sei... Ich bin kein Lord, meine Lady. Ich bin Schäfer und spiele Flöte in Schankräumen. Die Soldaten hielten in ihrem Gespräch inne und lauschten. Der Offizier schloß den Holzdeckel des Buches, in dem er gerade lesen wollte. Selenes ruhiger Blick löste in Rand Trotz aus. Bewußt mied er jedes Lied, das in einem Palast oder im Herrenhaus eines Lords gespielt werden mochte. Statt dessen spielte er ›Nur ein Eimer Wasser‹ und ›Tabak von den zwei Flüssen‹, ›Der alte Jak sitzt oben im Baum‹ und ›Meister Prikets Pfeife‹.
Beim letzten Lied begannen die Soldaten, mit rauhen Stimmen mitzusingen, wenn auch nicht den Text, den Rand kannte.
Wir reiten hinunter zum Iralell, dort, wo der Taren mündet.
Wir stehen am Ufer, als die Sonne sich gerade über dem Horizont befindet.
Ihre Pferde zertrampeln das Sommergras, ihre Flaggen verdunkeln den Himmel, doch wir halten das Feld gegen sie am Ufer des Iralell.
Ja, wir halten das Feld, wir halten das Feld, wir halten das Feld am Iralell.
Rand stellte nicht zum ersten Mal fest, daß eine Melodie in einem anderen Land oder manchmal sogar in einem anderen Dorf des gleichen Landes einen anderen Text und Titel hatte. Er begleitete sie, bis sie den Text beendet hatten, sich gegenseitig auf die Schultern schlugen und bissige Kommentare über die Gesangskunst des anderen abgaben.
Als Rand die Flöte senkte, erhob sich der Offizier und machte eine abgehackte Handbewegung. Mitten im Lachen verstummten die Soldaten, schoben ihre Stühle zurück, verbeugten sich mit einer Hand auf der Brust vor dem Offizier und vor Rand und gingen hinaus, ohne sich umzusehen. Der Offizier kam an Rands Tisch und verbeugte sich mit der Hand auf dem Herzen. Der kahlgeschorene vordere Teil seines Kopfes sah aus, als habe er ihn weiß gepudert. »Die Gnade des Lichts leuchte Euch, mein Lord. Ich hoffe, sie haben Euch mit ihrem Gesang nicht belästigt. Es sind gewöhnliche Leute, aber ich versichere Euch, daß sie Euch nicht beleidigen wollten. Ich heiße Aldrin Caldevwin, Eure Lordschaft, Hauptmann im Dienst seiner Majestät, das Licht sei ihm gnädig.« Sein Blick glitt über Rands Schwert. Rand hatte das Gefühl, Caldevwin habe die Reiher sofort bemerkt, als sie hereinkamen.