»Wenn ich dies nicht verfügt hätte, wärst du nach meinem Tod frei von deinem Eid, und nicht einmal mein nachdrücklichster Befehl würde verfolgt. Ich werde nicht zulassen, daß die bei dem nutzlosen Versuch, mich zu rächen, selbst umkommst. Und ich werde dir nicht gestatten, zu deinem ebenso nutzlosen Privatkrieg in der Fäule zurückzukehren. Der Krieg, in dem wir stehen, ist derselbe Krieg. Wenn du das nur einsähest! Ich werde dafür sorgen, daß du einen sinnvollen Kampf kämpfst. Weder Rache zu üben noch einsam in der Fäule zu sterben, kann einen Sinn haben.«
»Und siehst du deinen baldigen Tod kommen?« Seine Stimme klang ruhig; sein Gesicht war ausdruckslos. Beides wirkte wie Stein in einem Wintersturm. Diese Stimmung hatte sie an ihm schon oft bemerkt, gewöhnlich, wenn er nahe daran war, Gewalt anzuwenden. »Hast du etwas ohne mich geplant, das dir den Tod bringen wird?«
»Ich bin froh, daß es in diesem Raum keinen Teich gibt«, murmelte sie, und als er sich ob ihres leichten Tonfalles versteifte, hob sie beschwichtigend die Hände. »Ich sehe meinem Tod jeden Tag ins Gesicht, genau wie du. Wie könnte das auch anders sein angesichts der Aufgabe, der wir uns so viele Jahre lang gewidmet haben? Jetzt, da sich alles zuspitzt, wird die Wahrscheinlichkeit einfach größer.«
Einen Augenblick lang betrachtete er seine großen, eckigen Hände. »Ich habe nie daran gedacht«, sagte er schwerfällig, »daß du die erste von uns beiden sein könntest, die stirbt. Irgendwie schien es mir selbst in der schlimmsten Lage... « Er rieb sich die Hände. »Wenn die Möglichkeit besteht, daß ich wie ein Schoßhündchen weitergereicht werde, möchte ich wenigstens wissen, wem ich übergeben werde.«
»Ich habe dich nie als Schoßhündchen betrachtet«, sagte Moiraine in scharfem Tonfall, »und Myrelle tut es auch nicht.«
»Myrelle.« Er verzog das Gesicht. »Ja, es mußte wohl eine Grüne sein, sonst hätte es nur irgendein Mädchen sein können, das gerade erst die volle Schwesternschaft erlangt hat.«
»Wenn Myrelle mit ihren drei Gaidins fertig werden kann, dann schafft sie dich vielleicht auch noch. Obwohl sie dich, wie ich weiß, gern behalten würde, hat sie mir doch versprochen, dich an eine andere weiterzugeben, wenn sie eine findet, die besser zu dir paßt.«
»Aha. Kein Schoßhündchen, sondern ein Paket. Myrelle wird also nur eine — Aufseherin sein! Moiraine, nicht einmal die Grünen behandeln ihre Behüter so. Keine Aes Sedai hat in den letzten hundert Jahren ihren Behüter unter Eid an eine andere weitergegeben, aber du hast das mit mir nicht nur einmal, sondern sogar zweimal vor!«
»Es ist geregelt, und ich werde es nicht mehr rückgängig machen.«
»Licht blende mich, aber wenn ich schon von Hand zu Hand weitergereicht werden soll, hast du dann wenigstens eine Ahnung, in wessen Hand ich schließlich enden werde?«
»Was ich tue, ist zu deinem eigenen Wohl und vielleicht auch zum Wohl einer anderen. Vielleicht wird Myrelle ja irgendein Mädchen finden, das gerade erst die volle Schwesternschaft erlangt hat — so hattest du das doch ausgedrückt? — und die einen kampferprobten Behüter braucht, der sich in der Welt auskennt, ein Mädchen, das vielleicht jemanden braucht, der sie in einen Teich wirft. Du hast viel zu bieten, Lan. Und das alles in einem unbekannten Grab enden zu lassen, oder unter den Schnäbeln der Raben, während es einer Frau dienen könnte, die es braucht, das wäre schlimmer als die Sünde, von der die Weißmäntel immer predigen. Ja, ich glaube, sie wird dich brauchen.«
Lans Augen weiteten sich. Bei ihm war dies das gleiche, als ob einem anderen Mann vor Überraschung der Atem stockte. Sie hatte ihn selten so aus dem Gleichgewicht gebracht. Er öffnete und schloß den Mund zweimal, bevor er ein Wort herausbrachte: »Und an wen denkst du dabei...?«
Sie schnitt ihm das Wort ab: »Bist du sicher, daß das Halsband nicht scheuert, Lan Gaidin? Erkennst du jetzt tatsächlich zum erstenmal, wie stark dieses Band wirklich ist und wie tief es in dein Leben eingreift? Du könntest bei einer aufblühenden Weißen enden, die ganz Logik ist und kein Herz hat, oder bei einer jungen Braunen, die nichts anderes in dir sieht als zwei Paar Hände, die ihr die Bücher und Skizzen hinterhertragen. Ich kann dich weitergeben, an wen ich will, so wie ein Paket — oder einen Schoßhund —, und du kannst nichts dagegen tun. Bist du sicher, daß es nicht scheuert?«
»Ist das der ganze Zweck gewesen?« schimpfte er. Seine Augen glühten wie blaues Feuer, und sein Mund verzog sich. Zorn. Zum erstenmal, seit sie sich kannten, verzerrte offen zur Schau getragener Zorn sein Gesicht. »War dieses ganze Geschwätz ein Test — ein Test! —, um festzustellen, ob du es schaffst, mein Band zum Scheuern zu bringen, mich wundzureiben? Nach all dieser Zeit? Vom Tag an, da ich mich dir verschwor, bin ich dorthin geritten, wohin ich reiten sollte, selbst wenn ich es für falsch hielt, selbst wenn ich einen Grund hatte, einen anderen Weg zu nehmen. Du mußtest dieses Band niemals benutzen, um mich zu etwas zu zwingen. Auf dein Wort hin habe ich zugesehen, wie du in eine Gefahr hineingerannt bist, und ich habe die Hände stillgehalten, obwohl ich nichts lieber getan hätte, als das Schwert zu ziehen und dir damit einen Weg in die Sicherheit zu hauen. Nach alldem willst du mich noch prüfen?«
»Das war keine Prüfung, Lan. Ich habe es klar ausgesprochen und nichts verdreht, und ich habe wirklich getan, was ich sagte. Aber in Fal Dara begann ich mich zu fragen, ob du tatsächlich noch ganz hinter mir stehst.« Sein Blick wurde vorsichtigmißtrauisch. Lan, vergib mir. Ich hätte die Mauer um dich herum nicht derartig eingeschlagen, aber ich muß es einfach wissen. »Warum hast du das mit Rand getan?« Er zwinkerte; das hatte er offensichtlich nicht erwartet. Sie wußte, woran er gedacht hatte, und ließ nicht mehr locker, nachdem sie ihn schon aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. »Du hast ihm beigebracht, vor der Amyrlin wie einer der GrenzlandLords und ein geborener Soldat zu handeln und zu sprechen. Auf gewisse Weise paßte das durchaus zu dem, was ich für ihn geplant hatte, aber wir haben niemals davon gesprochen, daß du ihn unterrichten solltest. Warum, Lan?«
»Es schien mir — richtig. Ein junger Wolfshund muß eines Tages seinen ersten Wolf treffen, aber wenn der Wolf ihn als Welpe betrachtet und wenn er sich wie ein Welpe verhält, dann wird ihn der Wolf mit Sicherheit töten. Der Wolfshund muß in den Augen des Wolfes ein Wolfshund sein, mehr noch als in seiner Selbstachtung, wenn er überleben will.«
»Siehst du die Aes Sedai so? Die Amyrlin? Mich? Wölfe, die deinen jungen Wolfshund zerreißen wollen?« Lan schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, was er ist, Lan. Du weißt, was aus ihm werden muß. Muß! Worauf ich hingearbeitet habe, seit dem Tag, da wir uns kennenlernten, und sogar schon davor. Zweifelst du jetzt an meinem Tun?«
»Nein. Nein, aber...« Er hatte sich wieder besser im Griff, richtete die Mauer wieder auf. Aber noch stand sie nicht. »Wie oft hast du gesagt, daß ta'veren diejenigen in ihrer Umgebung wie Blätter in einen Strudel hineinreißen? Vielleicht wurde ich so hineingezogen. Ich weiß nur, daß es ein gutes Gefühl war. Diese Bauernburschen brauchten jemanden an ihrer Seite. Rand auf jeden Fall. Moiraine, ich glaube an das, was du tust. Selbst jetzt, da ich nicht einmal die Hälfte davon weiß, glaube ich daran, wie ich an dich glaube. Ich habe nicht darum gebeten, aus meinem Eid entlassen zu werden, und ich werde das auch nicht tun. Welche Pläne du auch für den Fall deines Todes und meine weitere — Verwendung haben magst: Ich werde dich mit größter Freude am Leben halten und dafür sorgen, daß wenigstens diese Pläne schiefgehen.«
»Ta'veren«, seufzte Moiraine. »Vielleicht lag es daran. Ich lenke kein Ästchen, das einen Bach hinuntertreibt sondern einen Baumstamm durch die Stromschnellen. Jedesmal, wenn ich ihm einen Stoß gebe, schlägt er zurück, und der Stamm wird immer größer, je weiter wir kommen. Und doch muß ich bis zum Ende darauf sitzenbleiben.« Sie lachte ein wenig. »Ich werde nicht unglücklich darüber sein, mein alter Freund, wenn du es schaffst, meine Pläne überflüssig zu machen. Jetzt geh aber bitte. Ich muß allein sein und nachdenken.« Er zögerte nur kurz, bevor er sich zur Tür wandte. Aber im letzten Moment konnte sie sich eine weitere Frage nicht verkneifen: »Träumst du manchmal von einem ganz anderen Leben, Lan?«