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»Shadar Logoth!« schnaubte Vandene. »Kurz gesagt, wurde die Stadt von ihrem eigenen Haß zerstört, alles, was lebte, bis auf Mordeth, den Ratgeber, mit dem alles begonnen hatte. Er benutzte die gleiche Taktik wie Schattenfreunde gegen Schattenfreunde, und jetzt steckt er dort in der Falle und wartet auf eine Seele, die er stehlen kann. Es ist gefährlich, die Stadt zu betreten und irgend etwas darin zu berühren. Aber das weiß ja wohl jede Novizin, die kurz davor steht, zu den Aufgenommenen erhoben zu werden. Um die ganze Geschichte zu hören, mußt du einen Monat hierbleiben und dir Adeleas' Vorträge anhören — sie weiß wirklich sehr viel darüber —, aber sogar ich kann dir sagen, daß nichts über den Drachen darin enthalten ist. Der Ort war schon hundert Jahre lang tot, bevor sich Yurian Steinbogen aus der Asche der Trolloc-Kriege erhob, und von allen falschen Drachen der Geschichte liegt er dem am nächsten.«

Moiraine hob eine Hand. »Ich habe mich nicht klar ausgedrückt, und ich spreche jetzt nicht von einem Drachen, sei er wiedergeboren oder falsch. Kannst du dir irgendeinen Grund denken, warum ein Blasser etwas aus Shadar Logoth mitnehmen würde?«

»Nicht, wenn er wußte, was das wirklich war. Der Haß, der Shadar Logoth tötete, war Haß, der gegen den Dunklen König eingesetzt werden sollte. Er würde einen Abkömmling des Schattens genauso zerstören wie jemanden, der im Licht wandelt. Sie fürchten sich zu Recht genauso wie wir vor Shadar Logoth.«

»Was kannst du mir über die Verlorenen berichten?«

»Du springst von einem Thema zum anderen! Ich kann dir nicht viel mehr erzählen, als du schon als Novizin gelernt hast. Niemand weiß viel mehr über die Namenlosen. Erwartest du von mir, daß ich dir das herunterbete, was wir beide als Mädchen gelernt haben?«

Moiraine schwieg. Sie wollte nicht zuviel ausplaudern, aber Vandene und Adeleas wußten viel mehr als jede andere außerhalb der Weißen Burg, und dort erwartete sie mehr Schwierigkeiten, als sie ertragen konnte. Sie sprach den Namen aus, als wäre es unabsichtlich geschehen: »Lanfear.«

»Ausnahmsweise«, seufzte die andere Frau, »weiß ich darüber kein bißchen mehr als damals als Novizin. Die Tochter der Nacht bleibt ein Geheimnis, als habe sie sich tatsächlich in Dunkelheit gehüllt.« Sie unterbrach sich, starrte in ihre Tasse, und als sie wieder aufblickte, traf ihr scharfer Blick Moiraines Gesicht. »Lanfear war mit dem Drachen, mit Lews Therin Telamon, eng verknüpft. Moiraine, hast du einen Hinweis darauf, wo der Drache wiedergeboren wird? Oder wiedergeboren wurde? Ist er schon da?«

»Falls ich das wüßte«, sagte Moiraine verbindlich, »wäre ich dann hier und nicht auf der Weißen Burg? Ich schwöre dir, die Amyrlin weiß genausoviel wie ich. Bist du zu ihr gerufen worden?«

»Nein, aber ich glaube wohl, daß wir zusammengerufen werden. Wenn die Zeit kommt, daß wir uns dem Wiedergeborenen Drachen entgegenstellen müssen, dann braucht die Amyrlin jede Schwester, jede Aufgenommene, jede Novizin, die ohne Hilfe eine Kerze entzünden kann.« Vandenes Stimme senkte sich nachdenklich. »Bei der Macht, die er zur Verfügung hat, müssen wir ihn überwältigen, bevor er eine Möglichkeit hat, sie gegen uns einzusetzen, bevor er wahnsinnig werden und die Welt zerstören kann. Doch zuerst müssen wir ihn gegen den Dunklen König kämpfen lassen.« Sie lachte humorlos, als sie Moiraines überraschten Blick wahrnahm. »Ich bin keine Rote. Ich habe die Prophezeiungen gründlich genug studiert, um zu wissen, daß wir es nicht wagen dürfen, ihn gleich einer Dämpfung zu unterziehen. Falls wir ihn überhaupt dämpfen können. Ich weiß so gut wie du, so gut wie jede Schwester, die es herauszufinden wagt, daß die Siegel, die den Dunklen König in Shayol Ghul binden, bereits schwächer werden. Die Illianer rufen zur Wilden Jagd nach dem Horn auf. Falsche Drachen tauchen auf. Und zwei von ihnen, Logain und nun dieser Bursche in Saldaea, sind in der Lage, die Macht zu benutzen. Wann ist es das letztemal geschehen, daß die Roten innerhalb eines Jahres gleich zwei Männer gefunden haben, die die Macht benutzen können? Sie haben ja nicht einmal einen in fünf Jahren gefunden! Jedenfalls nicht während meiner Lebenszeit, und ich bin ein gutes Stück älter als du. Die Anzeichen sind überall zu finden. Tarmon Gai'don kommt. Der Dunkle König wird sich befreien. Und der Drache wird wiedergeboren.« Die Tasse klapperte beim Hinstellen. »Und deshalb hatte ich gefürchtet, du hättest einen Hinweis auf ihn entdeckt.«

»Er wird kommen«, sagte Moiraine ausweichend, »und wir werden tun, was getan werden muß.«

»Wenn es von irgendwelchem Nutzen wäre, würde ich Adeleas' Nase aus den Büchern zerren und mit ihr zur Weißen Burg aufbrechen. Aber um ehrlich zu sein, ich bin lieber hier als dort. Vielleicht haben wir doch genügend Zeit, um unser Geschichtsbuch zu vollenden.«

»Ich hoffe, das wird Euch gelingen, Schwester.«

Vandene erhob sich. »Also, jetzt muß ich noch einiges erledigen, bevor ich ins Bett gehe. Falls du keine weiteren Fragen hast, werde ich dich deinen Studien überlassen.« Aber dann hielt sie noch einmal inne und bewies, daß sie trotz all der mit dem Studium von Büchern verbrachten Zeit immer noch eine Grüne war. »Du solltest etwas wegen Lan unternehmen, Moiraine. In dem Mann grollt es schlimmer als im Drachenberg. Früher oder später wird er explodieren. Ich habe schon oft genug erlebt, wie ein Mann einer Frau wegen in Schwierigkeiten geriet. Ihr beiden seid lange Zeit zusammengewesen. Vielleicht hat er sich endlich dazu durchgerungen, dich als Frau zu sehen und nicht nur als Aes Sedai.«

»Lan sieht mich als das, was ich bin, Vandene. Aes Sedai. Und immer noch als Freundin, hoffe ich.«

»Ihr Blauen. Immer dazu bereit, die Welt zu retten, und dabei verliert ihr euch selbst aus den Augen.«

Nachdem die weißhaarige Aes Sedai gegangen war, raffte Moiraine ihren Umhang um sich und ging vor sich hinmurmelnd in den Garten. Irgend etwas von Vandenes Worten nagte an ihrem Verstand, doch sie konnte sich nicht erinnern, was es war. Eine Antwort oder der Anflug einer Antwort auf eine Frage, die sie nicht gestellt hatte. Aber sie konnte sich auch an die Frage nicht erinnern.

Wie das Haus war auch der Garten klein, aber sehr gepflegt. Das wurde selbst im Mondschein deutlich, der von dem gelben Schein aus den Fenstern unterstützt wurde. Zwischen sauber angelegten Blumenbeeten zogen sich Sandwege entlang. Sie zog in der sanften Kühle der Nacht den Umhang etwas fester zusammen. Welche

Antwort war das — und auf welche Frage?

Sand knirschte hinter ihr, und sie drehte sich um, im Glauben, es sei Lan.

Ein Schatten ragte nur wenige Schritte vor ihr auf, ein Schatten, der wie ein viel zu großer, in einen Umhang gehüllter Mann wirkte. Aber der Mondschein enthüllte das Gesicht. Hagere Wangen, blasse Haut, zu große schwarze Augen über einem Schmollmund mit blutroten Lippen. Der Umhang öffnete sich und wurde zu den riesigen Schwingen einer Fledermaus.

Im Bewußtsein, daß es zu spät war, öffnete sie sich Saidar, doch der Draghkar begann leise zu singen, und die sanften Töne durchrieselten sie und ließen ihre Willenskraft erlahmen. Saidar entschlüpfte ihr. Sie empfand nur eine verwaschene Traurigkeit, als sie auf die Kreatur zuschritt. Das tiefe Singen, das sie immer näher lockte, unterdrückte jedes andere Gefühl. Weiße, weiße Hände —wie die Hände eines Mannes, doch mit Klauen bewehrt —streckten sich nach ihr aus, und blutrote Lippen verzogen sich zum schrecklichen Abklatsch eines Lächelns. Spitze Zähne zeigten sich, aber nur undeutlich, ganz undeutlich. Sie wußte, daß er nicht beißen oder reißen würde. Fürchte den Kuß des Draghkar. Sobald diese Lippen sie berührten, war sie so gut wie tot. Erst würde ihr die Seele geraubt und dann das Leben. Wer immer sie auch finden mochte, und wenn es in dem Augenblick war, in dem der Draghkar sie fallen ließ, der würde eine Leiche ohne jede Verwundung finden — so kalt, als sei sie bereits zwei Tage lang tot. Und falls jemand kam, bevor sie tot war, wäre das, was sie fänden, noch schlimmer und hätte wirklich mit ihr nichts mehr zu tun. Das Singen lockte sie in die Reichweite dieser blassen Hände, und der Kopf des Draghkar neigte sich langsam ihr zu.