Zu ihrer Rechten schimmerte etwas auf, von den zusammenbrechenden Mauern freigegeben.
Nynaeve fühlte, wie Aginor schwächer wurde, wie seine Bemühungen, sie zu treffen, immer schwächlicher und hektischer wurden. Doch sie wußte, daß er noch nicht aufgeben würde. Wenn sie ihn jetzt gehen ließ, würde er sie genauso wie vorher jagen, überzeugt davon, daß sie eben doch zu schwach sei, um ihn zu besiegen, zu schwach, um ihn davon abzuhalten, was er mit ihr vorhatte.
Ein silberner Torbogen erhob sich, wo vorher nur Stein gewesen war, ein mit weicher silberner Strahlung erfüllter Bogen. Der Weg zurück...
Sie merkte es, als der Verlorene seinen Angriff aufgab und von diesem Augenblick an alle Kräfte verwandte, um sich gegen sie zu wehren. Und seine Macht reichte nicht aus dafür; er konnte ihre Schläge nicht länger ablenken. Nun mußte er sich vor den Steinfontänen in Sicherheit bringen, die ihre Blitze hochschleuderten. Wieder warfen ihn diese Explosionen zu Boden.
Der Weg zurück erscheint nur ein einziges Mal. Seid standhaft.
Die Blitze zuckten nicht mehr vom Himmel. Nynaeve wandte sich von dem kriechenden Aginor ab, um den Bogen anzublicken. Sie sah zu Aginor zurück, gerade im rechten Augenblick, um zu sehen, wie er über Steinhaufen hinweg davon kroch und verschwand. Sie zischte enttäuscht durch die Zähne. Große Teile des Labyrinths standen noch, und in den Trümmern, die ihr Kampf hinterlassen hatte, gab es hundert neue Verstecke. Es würde Zeit kosten, ihn wiederzufinden, aber sie war sicher, wenn nicht sie ihn zuerst fände, dann würde er sie erneut aufspüren. Erholt und mit neuer Kraft würde er sie überfallen, wenn sie es am wenigsten erwartete.
Der Weg zurück erscheint nur ein einziges Mal.
In aufkeimender Angst sah sie sich um und war erleichtert, daß sich der Bogen noch dort befand. Wenn sie Aginor schnell aufspürte...
Seid standhaft.
Mit einem Aufschrei unterdrückten Zorns kletterte sie los, über die umgestürzten Steine hinweg auf das Tor zu. »Wer auch dafür verantwortlich sein mag, daß ich hier bin«, murmelte sie, »an dem werde ich mich so rächen, daß er wünscht, anstelle von Aginor zu sein. Ich werde... « Sie schritt in das Tor hinein, und das Licht überwältigte sie.
»Ich werde...« Nynaeve trat aus dem Tor und sah sich um. Es war alles so, wie in ihrer Erinnerung — der silberne TerAngreal, die Aes Sedai, der Raum —, aber alles das traf sie wie ein Schlag, als die verschwundenen Erinnerungen in ihren Kopf zurückkrachten. Sie war aus dem gleichen Bogen getreten, durch den sie den Raum verlassen hatte.
Die Rote Schwester hob eine der Silberschalen und goß einen Schwall kühlen klaren Wassers über Nynaeves Kopf. »Ihr seid gereinigt von aller Sünde, die Ihr begangen haben mögt«, sang die Aes Sedai, »und von den Sünden, die an Euch begangen wurden. Ihr seid gereinigt von allen Verbrechen, die Ihr begangen haben mögt, und von denen, die man an Euch begangen hat. Ihr kommt zu uns gewaschen und rein in Herz und Seele.«
Nynaeve schauderte, als das Wasser an ihrem Körper hinunterlief und auf den Boden tropfte.
Sheriam nahm sie mit einem erleichterten Lächeln beim Arm, aber aus der Stimme der Oberin der Novizinnen konnte sie nicht auf vorhergegangene Sorgen schließen. »Bisher macht Ihr Eure Sache gut. Zurückzukommen heißt, es gut zu machen. Denkt daran, was Ihr erreichen wollt, und dann wird es auch weiterhin gelingen.« Der Rotschopf führte sie um den TerAngreal herum zum nächsten Tor.
»Es sah so wirklich aus«, sagte Nynaeve im Flüsterton. Sie konnte sich an alles erinnern, auch wie sie die Eine Macht benützt hatte, als sei es genauso einfach, wie eine Hand zu erheben. Sie erinnerte sich an Aginor und was der Verlorene ihr hatte antun wollen. Sie schauderte wieder. »War es real?«
»Das weiß niemand«, antwortete Sheriam. »In der Erinnerung erscheint es real, und manche sind auch schon herausgekommen und hatten wirkliche Wunden, die sie drinnen erhalten hatten. Andere wieder hat man drinnen bis auf die Knochen durchbohrt, und sie sind ohne einen Kratzer herausgekommen. Es ist immer etwas Neues für jede Frau, die hineingeht. Die Alten behaupteten, es gebe viele Welten. Vielleicht bringt uns der TerAngreal zu ihnen. Aber sollte das der Fall sein, dann nur unter sehr eigenartigen Bedingungen für etwas, das einen nur von einem Ort zum anderen befördern soll. Ich glaube, es ist nichts Reales. Aber denkt daran, gleichgültig, ob das Geschehen wirklich ist oder nicht, die Gefahr ist jedenfalls so real wie ein Messer, das Euch ins Herz gestoßen wird.«
»Ich habe die Macht verwandt. Es war so leicht.«
Sheriam stolperte. »Man sagt, das sei nicht möglich. Ihr solltet Euch nicht einmal daran erinnern, die Macht gelenkt zu haben.« Sie musterte Nynaeve. »Und doch ist Euch nichts passiert. Ich kann die Fähigkeit immer noch in Euch fühlen, so stark wie vorher.«
»Ihr klingt, als sei das gefährlich«, meinte Nynaeve bedächtig, und Sheriam zögerte mit ihrer Antwort.
»Wir halten es nicht für notwendig, Euch davor zu warnen, da Ihr nicht in der Lage sein solltet, Euch überhaupt daran zu erinnern, aber... Dieser TerAngreal wurde während der Trolloc-Kriege gefunden. Wir haben Berichte über die damals angestellten Untersuchungen im Archiv. Die erste Schwester, die man hineinschickte, war so stark abgeschirmt wie überhaupt nur möglich, da niemand wußte, was geschehen würde. Sie behielt ihre Erinnerungen, und sie benützte die Eine Macht, als sie bedroht wurde. Und sie kam mit völlig ausgebrannten Fähigkeiten zurück, unfähig, die Macht zu lenken, unfähig sogar, die Wahre Quelle wahrzunehmen. Auch die zweite, die hineinging, war abgeschirmt, und auch sie wurde auf die gleiche Weise innerlich zerstört. Die dritte ging ungeschützt hinein, erinnerte sich drinnen an nichts und kehrte unversehrt zurück. Das ist ein Grund, warum wir Euch völlig ungeschützt hineinschicken. Nynaeve, Ihr dürft im TerAngreal die Macht nicht mehr benützen. Ich weiß, es ist schwer, sich an etwas zu erinnern, aber bemüht Euch.«
Nynaeve schluckte. Sie konnte sich an alles erinnern, auch daran, daß sie sich drinnen an nichts mehr erinnert hatte. »Ich werde die Macht nicht benützen«, sagte sie. Wenn ich mich daran erinnern kann. Sie hätte am liebsten hysterisch gelacht.
Sie hatten den nächsten Bogen erreicht. Das Glühen erfüllte nach wie vor alle. Sheriam warf Nynaeve einen letzten warnenden Blick zu und ließ sie dann allein.
»Das zweite Mal ist für das, was ist. Der Weg zurück erscheint nur ein einziges Mal. Seid standhaft.«
Nynaeve blickte den schimmernden Bogen an. Was wartet diesmal drinnen auf mich? Die anderen warteten und beobachteten sie. Sie trat entschlossen hindurch in das Licht.
Nynaeve blickte das einfache braune Kleid überrascht an, das sie trug. Dann fuhr sie zusammen. Warum sah sie ihr eigenes Kleid so an? Der Weg zurück erscheint nur ein einziges Mal. Sie lächelte, als sie sich umblickte. Sie stand am Rand des Dorfgrüns in Emondsfeld, um sie herum die schindelgedeckten Dächer und vor ihr die Weinquellenschenke. Die Weinquelle selbst quoll in einem kraftvollen Schwall aus dem Felsausläufer, der sich ins Gras des Grüns hineinschob, und der Weinquellenbach rauschte unter den Weiden neben der Schenke hindurch nach Osten. Die Straßen waren leer, aber die meisten Leute waren um diese Zeit des Vormittags bei der Arbeit.
Als sie die Schenke ansah, verflog ihr Lächeln. Sie wirkte mehr als nur ein bißchen vernachlässigt. Der Verputz war verblaßt, ein Fensterladen hing lose an einer Angel, das faulende Ende eines Dachbalkens zeigte sich in einer Lücke zwischen den Ziegeln. Was ist denn in Bran gefahren? Verbringt er so viel Zeit damit, Bürgermeister zu spielen, daß er vergißt, sich um seine Schenke zu kümmern? Die Tür der Schenke flog auf, und Cenn Buie trat heraus. Als er sie sah, blieb er wie angewurzelt stehen. Der alte Dachdecker wirkte so knorrig wie eine Eichenwurzel, und der Blick, den er ihr zuwarf, war genauso freundlich. »Also bist du zurückgekommen, was? Na ja, du kannst gleich wieder verschwinden.«