Sheriam runzelte die Stirn. »Es sollte eigentlich keinerlei Narbe zu sehen sein. Und wie seid Ihr zu den beiden Dornen gekommen — nur zwei und jede so genau plaziert? Wenn Ihr Euch in einem Schlehenstrauch verfangen habt, solltet Ihr über und über mit Kratzern bedeckt sein.«
»Sollte ich«, stimmte ihr Nynaeve bitter zu. »Vielleicht war ich der Meinung, ich hätte schon genug bezahlt.«
»Man muß immer dafür bezahlen«, meinte die Aes Sedai. »Kommt jetzt. Ihr habt Euren ersten Preis gezahlt. Nehmt, wofür Ihr bezahlt habt.« Sie gab Nynaeve einen kleinen Stoß nach vorn.
Nynaeve wurde bewußt, daß sich nun mehr Aes Sedai im Raum befanden. Die Amyrlin in ihrer gestreiften Stola war da und aus jeder Ajah eine Schwester, die sich neben der Amyrlin aufgereiht hatten. Alle beobachteten Nynaeve. Sie erinnerte sich an Sheriams Instruktionen, stolperte nach vorn und kniete vor der Amyrlin nieder. Sie hielt die letzte Schale, und nun goß sie sie langsam über Nynaeves Kopf aus.
»Ihr seid gereinigt von Nynaeve al'Meara aus Emondsfeld. Ihr seid gereinigt von allen Bindungen an die Welt. Ihr kommt zu uns gewaschen und rein in Herz und Seele. Ihr seid Nynaeve al'Meara, eine Aufgenommene in der Weißen Burg.« Sie gab die Schale an eine der Schwestern weiter und zog Nynaeve auf die Beine. »Ihr seid jetzt vor uns versiegelt.«
In den Augen der Amyrlin schien es dunkel zu glühen. Nynaeves Schaudern hatte nichts damit zu tun, daß sie nackt und naß war.
24
Neue Freunde und alte Feinde
Egwene folgte der Aufgenommenen durch die Säle der Weißen Burg. Gobelins und Gemälde bedeckten Wände, die genauso weiß waren wie die Außenmauern der Burg. Der Fußboden war mit gemusterten Platten ausgelegt. Das weiße Kleid der Aufgenommenen sah genauso aus wie ihres; nur am Saum und an den Manschetten befanden sich jeweils sieben dünne Farbbänder. Egwene runzelte die Stirn, als sie das Kleid betrachtete. Seit gestern trug auch Nynaeve das Kleid der Aufgenommenen, aber sie schien daran keine Freude zu haben, so wenig wie an dem goldenen Ring — einer Schlange, die den eigenen Schwanz fraß —, der ihren Rang anzeigte. Egwene hatte die Seherin nur ein paarmal getroffen, doch über Nynaeves Augen schien ein Schatten zu liegen, als habe sie Dinge gesehen, die sie von ganzem Herzen ungesehen zu machen wünsche.
»Hier herein«, sagte die Aufgenommene kurz angebunden und deutete auf eine Tür. Sie hieß Pedra und war eine kleine drahtige Frau, ein wenig älter als Nynaeve, und ihre Stimme klang immer so kurz angebunden. »Euch sei diese Freizeit gestattet, weil es Euer erster Tag hier ist, aber ich erwarte Euch in der Spülküche, sobald der Gong die Hohe Stunde schlägt, und keinen Augenblick später.«
Egwene knickste und streckte dem Rücken der Davonschreitenden die Zunge hinaus. Es war vielleicht nur einen Abend her, daß Sheriam ihren Namen endlich in das Novizinnenregister eingetragen hatte, aber sie war sich bereits darüber im klaren, daß sie Pedra nicht leiden konnte. Sie drückte die Tür auf und trat ein.
Das Zimmer war einfach und klein und hatte weißgetünchte Wände. Drinnen befand sich eine junge Frau mit rotgoldenem, bis auf die Schultern herunterhängendem Haar, die auf einer der beiden harten Bänke saß. Der Fußboden war kahl; Novizinnen hatten nicht viel Verwendung für Zimmer mit Teppichen. Das Mädchen war ungefähr in ihrem Alter, doch es lagen eine solche Würde und Selbstsicherheit in seiner Haltung, daß es älter wirkte. An ihr sah das einfach geschnittene Kleid der Novizinnen wie eine Robe aus. Elegant. Ja, das war es.
»Ich heiße Elayne«, sagte sie. Sie hielt den Kopf schräg und musterte Egwene. »Und du bist Egwene. Aus Emondsfeld in den Zwei Flüssen.« Sie sagte das, als habe es eine besondere Bedeutung, fuhr aber sogleich fort: »Einer neuen Novizin wird immer ein paar Tage lang eine Novizin beigegeben, die schon eine Weile hier ist, um ihr beim Zurechtfinden behilflich zu sein. Setz dich bitte.«
Egwene setzte sich auf die Bank Elayne gegenüber. »Ich dachte, jetzt, da ich endlich Novizin bin, würde ich von Aes Sedai unterrichtet. Aber bisher hat mich nur Pedra gute zwei Stunden vor Tagesanbruch geweckt und die Flure fegen lassen. Sie sagt, nach dem Essen müsse ich helfen, das Geschirr abzuwaschen.«
Elayne verzog das Gesicht. »Ich hasse das Abspülen. Ich mußte das nie... Na ja, es spielt keine Rolle. Du wirst unterrichtet. Von jetzt an wirst du um diese Zeit jeden Tag im Unterricht sein. Vom Frühstück bis zur Hohen Stunde und dann wieder vom Mittagessen bis zur Drittstunde. Wenn du besonders schnell oder besonders langsam lernst, dann geht es vielleicht nach dem Abendessen noch weiter bis zur Vollen Stunde, aber normalerweise mußt du zu der Zeit noch mehr Haushaltsarbeiten erledigen.« Elaynes blaue Augen blickten nachdenklich drein. »Du wurdest mit dem Talent geboren, nicht wahr?« Egwene nickte. »Ja, ich fühlte es. Bei mir war es genauso. Es war auch angeboren. Sei nicht enttäuscht, wenn du es nicht bemerkt hast. Du wirst noch lernen, das Talent anderer Frauen zu fühlen. Ich hatte den Vorteil, in der Nähe einer Aes Sedai aufzuwachsen.«
Egwene wollte schon danach fragen — Wer wächst schon in der Nähe einer Aes Sedai auf? —, aber Elayne sprach weiter: »Und sei auch nicht enttäuscht, wenn es einige Zeit dauert, bevor du etwas zustande bringst. Mit der Einen Macht, meine ich. Selbst die einfachsten Sachen brauchen ein wenig Zeit. Geduld ist eine Tugend, die man lernen muß.« Ihre Nase krauste sich ein wenig. »Sheriam Sedai sagt das immer, und sie tut ihr Bestes, damit wir das alle lernen. Versuch zu rennen, wenn sie sagt, du sollst gehen, und sie hat dich einen Wimpernschlag später schon in ihrem Büro.«
»Ich habe auch schon ein paar Lektionen erhalten«, sagte Egwene und bemühte sich, bescheiden zu klingen. Sie öffnete sich Saidar — das war mittlerweile leichter geworden — und fühlte, wie die Wärme ihren Körper durchdrang. Sie beschloß, das Größte zu versuchen; was sie bisher gelernt hatte. Sie streckte die Hand aus, und über ihr formte sich eine glühende Kugel aus purem Licht. Sie flackerte — sie brachte es noch nicht fertig, das Licht stetig zu halten —, aber sie war immerhin da.
Ruhig streckte auch Elayne die Hand aus, und über der Handfläche erschien eine Lichtkugel. Auch sie flackerte.
Einen Moment später nahm Egwene einen schwachen Lichtschein um Elayne herum wahr. Sie schnappte nach Luft, und ihre Lichtkugel verschwand.
Elayne kicherte, und auch ihr Licht erlosch, sowohl die Kugel als auch der Schein rundum. »Du hast es gesehen, dieses Licht, das mich umgab?« fragte sie aufgeregt. »Ich habe es bei dir gesehen. Sheriam Sedai sagt, das käme früher oder später. Aber dies war das erste Mal. Bei dir auch?«
Egwene nickte und schloß sich dem Lachen des anderen Mädchens an. »Du gefällst mir, Elayne. Ich glaube, wir werden Freundinnen.«
»Das glaube ich auch, Egwene. Du kommst von den Zwei Flüssen, aus Emondsfeld. Kennst du da einen Jungen namens Rand al'Thor?«
»Ich kenne ihn.« Plötzlich fiel Egwene eine Geschichte ein, die Rand erzählt und die sie nicht geglaubt hatte, wie er von einer Gartenmauer gefallen war und dort... »Du bist die Tochter-Erbin von Andor«, japste sie.
»Ja«, sagte Elayne schlicht und einfach. »Wenn Sheriam Sedai hört, daß ich das auch nur erwähne, wäre ich wahrscheinlich schon in ihrem Büro, bevor ich noch ausgesprochen hätte.«
»Jede redet davon, in Sheriams Büro gerufen zu werden. Sogar die Aufgenommenen. Schimpft sie so schlimm? Sie scheint mir so freundlich.«
Elayne zögerte, und als sie dann sprach, klang es bedächtig. Sie sah Egwene dabei nicht an. »Sie hat eine Weidenrute auf ihrem Schreibtisch. Sie sagt, wenn du nicht auf anständige Weise lernst, dich an die Regeln zu halten, dann lehrt sie es dich auf andere Art. Es gibt so viele Vorschriften für Novizinnen, da ist es schwer, keine davon zu übertreten«, endete sie.