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Außerhalb der Stadtmauer lag ein Gewirr von Straßen, die sich in jedem möglichen Winkel kreuzten und vor Menschen nur so wimmelten. Dieses Viertel erstreckte sich von Flußufer zu Flußufer. Rand wußte von Hurin, daß man es Vortor nannte. Einst hatte man ein Marktdorf vor jedem Stadttor erbaut, doch in so vielen Jahren waren diese Dörfer zusammengewachsen. Das Durcheinander von Straßen und Gassen hatte sich in alle möglichen Richtungen ausgedehnt.

Als Rand und die anderen in diese ungepflasterten Straßen hineinritten, wies Tavolin ein paar seiner Soldaten an, ihnen einen Weg durch das Gewühl zu bahnen. Sie schrien und peitschten ihre Pferde vorwärts, als wollten sie alle niedertrampeln, die nicht rechtzeitig aus dem Weg sprangen. Die Leute wichen ihnen aus, ohne weiter hinzuschauen; es war wohl etwas ganz Alltägliches für sie. Rand mußte aber doch lächeln.

Die Kleidung der Leute von Vortor war meist recht schäbig, aber dafür sehr farbig, und der ganze Ort war von derbem Leben erfüllt. Straßenhändler priesen schreiend ihre Waren an, und Ladenbesitzer riefen den Leuten zu, sie sollten ihre Waren betrachten, die auf Tischen vor den Läden ausgebreitet waren. Barbiere, Obsthändler, Scherenschleifer, Männer und Frauen, die hundert verschiedene Dienste und Hunderte von Waren zum Verkauf anboten, schoben sich durch die Menge. Aus mehr als einem Gebäude erklang Musik durch den Lärm der Menge hindurch. Zuerst glaubte Rand, es seien Schenken, doch die Schilder davor zeigten ausnahmslos Männer mit Flöten oder Harfen, Jongleure oder Akrobaten, und so groß sie auch waren, wiesen sie keinerlei Fenster auf. Die meisten Gebäude in Vortor waren aus Holz gebaut, gleich, wie groß sie waren, und viele wirkten neu, wenn auch hastig zusammengezimmert.

Rand starrte ein paar an, die mehr als sieben Stockwerke hatten. Sie schwankten ein wenig, obwohl die hinein- und hinaushastenden Menschen das offenbar gar nicht bemerkten.

»Bauern«, knurrte Tavolin, der verächtlich geradeaus blickte. »Seht sie an, wie sie von ausländischen Sitten verdorben wurden. Sie sollten nicht hier sein.«

»Wo sollten sie denn sein?« fragte Rand. Der Offizier aus Cairhien funkelte ihn böse an und gab seinem Pferd die Sporen. Er hieb mit seiner Reitpeitsche in die Menge hinein.

Hurin berührte Rand am Arm. »Es war der Aiel-Krieg, Lord Rand.« Er sah sich um, ob einer der Soldaten nahe genug sei, um zu lauschen. »Viele Bauern hatten Angst davor, auf ihr Land am Rückgrat der Welt zurückzukehren, und so kamen sie alle hierher, wo sie wenigstens der Heimat nahe sind. Deshalb läßt Galldrian diese vielen Lastkähne voll Getreide von Andor und Tear den Fluß heraufkommen. Es kommt kein Getreide aus dem Osten, denn dort gibt es keine Bauernhöfe mehr. Aber es ist besser, das jemandem aus Cairhien gegenüber nicht zu erwähnen, Lord Rand. Sie geben gern vor, den Krieg habe es nie gegeben, oder zumindest behaupten sie, sie hätten gewonnen.«

Trotz Tavolins Reitpeitsche wurden sie zum Halten gezwungen, als eine eigenartige Prozession an ihnen vorbeikam. Ein halbes Dutzend tanzender Männer mit Tambourinen führte eine Kette von riesigen Puppen an, von denen jede die Männer, die sie an langen Stangen hielten, noch um die Hälfte überragte. Gigantische gekrönte Gestalten von Männern und Frauen in langen, kunstvoll gewebten Roben verbeugten sich vor der Menge, umringt von phantasievollen Tierfiguren. Ein Löwe mit Schwingen. Ein Bock mit zwei Köpfen, der auf den Hinterbeinen lief. Den roten Bändern nach, die aus beiden Mäulern hingen, sollten sie wohl Feuer spucken. Etwas, das zur Hälfte Katze, zur Hälfte Adler zu sein schien, und eine andere mit dem Kopf eines Bären auf dem Körper eines Mannes. Rand hielt es für einen Trolloc. Die Menge jubelte und lachte, während sie vorbeitänzelten.

»Der Mann, der den gemacht hat, hat noch nie einen Trolloc gesehen«, knurrte Hurin. »Der Kopf ist zu groß und die Gestalt zu dünn. Hat vermutlich nicht an seine Existenz geglaubt, Lord Rand, genausowenig wie bei diesen anderen Ungeheuern. Die einzigen Monster, an die die Leute von Vortor glauben, sind die Aiel.«

»Feiern sie ein Fest?« fragte Rand. Er sah keine weiteren Anzeichen dafür als diese Prozession, aber er dachte, es müsse ja wohl einen Grund dafür geben. Tavolin befahl seinen Soldaten, nun endlich weiter vorzurücken.

»Nicht mehr als jeden Tag, Rand«, sagte Loial. Wie er so neben seinem Pferd einherschritt, auf dessen Sattel die in Decken gehüllte Truhe geschnallt war, zog er die Blicke genauso an wie die Puppen. Einige lachten sogar und klatschten Beifall wie vorher für die riesigen Figuren. »Ich fürchte, Galldrian stellt die Ruhe im Volk dadurch her, daß er sie Feste feiern läßt. Er gibt den Gauklern und Musikern das Königliche Präsent, eine Summe in Silber, um hier in Vortor ihre Kunst zu zeigen, und außerdem veranstaltet er jeden Tag Pferderennen am Fluß. An vielen Abenden gibt es auch Feuerwerk.« Er klang angewidert. »Der Älteste Haman sagt, Galldrian sei eine Schande für Cairhien.« Er blinzelte, als ihm klar wurde, was er da gesagt hatte, und dann sah er sich schnell um, ob einer der Soldaten es gehört hatte. Das war aber wohl nicht der Fall gewesen.

»Feuerwerk«, sagte Hurin und nickte. »Die Feuerwerker haben sich hier ein Gildehaus gebaut wie in Tanchico, habe ich gehört. Ich hätte nichts dagegen, wie damals, als ich hier war, so ein Feuerwerk zu sehen.«

Rand schüttelte den Kopf. Er hatte noch nie ein Feuerwerk gesehen, das prächtig genug gewesen wäre, um auch nur die Anwesenheit eines einzigen richtigen Feuerwerkers zu verlangen. Er hatte gehört, daß sie Tanchico nur verließen, um Veranstaltungen irgendwelcher Herrscher zu beehren. Sie waren schon an einem seltsamen Ort angelangt.

Am hohen, quadratischen Stadttor befahl Tavolin einen Halt, und er stieg vor einem geduckten Steingebäude knapp innerhalb der Stadtmauer ab. Es hatte statt Fenstern Schießscharten und eine schwere Tür mit Eisenstreben.

»Ein Augenblick, Lord Rand«, sagte der Offizier. Er warf seine Zügel einem der Soldaten zu und verschwand im Gebäude.

Rand musterte wachsam die Soldaten, die steif in zwei Reihen auf ihren Pferden saßen. Er fragte sich, was sie wohl tun würden, wenn er, Loial und Hurin nun wegzureiten versuchten. Dann nutzte er die Gelegenheit, die Stadt vor ihnen genauer zu betrachten.

Das eigentliche Cairhien bildete einen scharfen Kontrast zu dem geschäftigen Treiben von Vortor. Breite, gepflasterte Straßen kreuzten sich im rechten Winkel. Nur wenige Leute befanden sich darauf. Genau wie in Tremonsin hatte man die Hügel abgetragen und Terrassen angelegt, so daß die Straßen fast gerade verlaufen konnten. Geschlossene Sänften, manche mit einem kleinen Wimpel versehen, der das Wappen eines Adelshauses zeigte, wurden zielstrebig getragen, und Kutschen rollten langsam durch die Straßen. Die Menschen gingen schweigend in dunkler Kleidung einher. Man sah keine hellen Farben; höchstens hier und da eine Schärpe auf der Brust eines Mantels oder Kleides. Je mehr Schärpen oder Schrägstreifen, desto stolzer bewegte sich der Träger, aber niemand lachte oder lächelte auch nur. Die Gebäude auf den Terrassen waren aus Stein gebaut, und alle Verzierung wies nur Geraden und rechte Winkel auf. Auf den Straßen sah man keine Händler oder Bettler, und selbst die Läden schienen irgendwie dem Hintergrund angepaßt. Vor ihnen waren keine Waren ausgestellt, und die Schilder waren auch nur klein.

Er konnte nun auch die hohen Türme klarer erkennen. Aus zusammengebundenen Stangen gebaute Gerüste zogen sich um sie herum, und auf den Gerüsten wimmelte es von Arbeitern, die neue Steine brachten, um die Türme noch weiter zu erhöhen.

»Die Himmelhohen Türme von Cairhien«, murmelte Loial traurig. »Na ja, einst waren sie hoch genug, um diese Bezeichnung zu verdienen. Als die Aiel Cairhien ungefähr zu der Zeit einnahmen, als du geboren wurdest, da brannten die Türme und zersprangen und stürzten ein. Ich sehe unter den Steinmetzen keine Ogier. Keinem Ogier würde es gefallen, hier zu arbeiten. Die Menschen von Cairhien wollen alles, was sie erbauen, ohne jede Verzierung oder Baukunst errichten. Trotzdem befanden sich Ogier hier, als ich das erste Mal in Cairhien war.«