»Da bin ich sicher, Rand, aber das geht nicht. Siehst du... «
»Darüber sprechen wir, wenn es an der Zeit ist, Loial. Jetzt komm mit zu Thom.«
Der Ogier überragte Rand noch einmal um die Hälfte, aber Rand schob ihn buchstäblich in seinen Mantel und Umhang hinein und die Treppe hinunter. Als sie durch den Schankraum trampelten, zwinkerte Rand dem Wirt zu und lachte dann über dessen verwirrten Blick. Laß ihn glauben, ich sei dabei, sein blutiges Großes Spiel zu spielen. Laß ihn glauben, was er will. Thom lebt noch. Als sie das Jangai-Tor in der Ostmauer der Stadt passiert hatten, schien jeder die ›Traube‹ zu kennen. Rand und Loial fanden sich schnell zurecht. Die Straße war für Vortor sehr ruhig. Die Sonne stand bereits tief am Nachmittagshimmel.
Es war ein altes, wackliges Holzgebäude mit drei Stockwerken, aber der Schankraum war sauber und voll. In einer Ecke saßen ein paar Männer beim Würfelspiel, und in einer anderen warfen Frauen mit Wurfpfeilen auf eine Zielscheibe. Die Hälfte sah aus wie typische Einwohner Cairhiens — schmächtig und blaß —, aber Rand hörte auch den andoranischen Dialekt und andere, die er nicht kannte. Aber alle trugen die Kleidung, die hier in Vortor üblich war: eine Mischung von Stilen aus einem halben Dutzend verschiedener Ländern. Einige blickten sich um, als er mit Loial hereinkam, doch dann wandten sie sich wieder ihrer Beschäftigung zu.
Die Wirtin war eine Frau mit genauso weißem Haar wie Thom und einem durchdringenden Blick, mit dem sie Loial und ihn musterte. Sie stammte nicht aus Cairhien, so schloß er aus ihrem dunklen Teint und ihrem Akzent. »Thom Merrilin? Iiia, er hat hier ein Zimmer. Die Treppe rauf, erste Tür rechts. Wahrscheinlich wird Euch Dena dort auf ihn warten lassen« — sie beäugte Rands roten Mantel, die Reiher am hohen Kragen und die goldgestickten Zweige an den Ärmeln und sein Schwert —»hoher Herr.«
Die Treppe knarrte unter Rands Stiefeln und erst recht unter denen Loials. Rand war nicht sicher, ob das Gebäude noch viel aushalten könne. Er fand die richtige Tür und klopfte an. Wer wohl Dena war?
»Herein«, rief eine weibliche Stimme. »Ich kann gerade nicht aufmachen.«
Rand öffnete zögernd die Tür und steckte den Kopf hinein. An einer Wand stand ein großes, ungemachtes Bett, und der übrige Raum wurde fast ganz von zwei Kleiderschränken, mehreren messingbeschlagenen Truhen und Behältern sowie einem Tisch und zwei Holzstühlen ausgefüllt. Die schlanke Frau, die mit untergeschlagenem Rock im Schneidersitz auf dem Bett saß, jonglierte gleichzeitig mit sechs bunten Bällen, die wie ein Rad durch die Luft wirbelten.
»Was immer es auch sein mag«, sagte sie, ohne den Blick von ihren Bällen zu wenden, »stellt es auf den Tisch. Thom wird bezahlen, wenn er zurückkommt.«
»Seid Ihr Dena?« fragte Rand.
Sie schnappte sich einen Ball nach dem anderen aus der Luft und drehte sich um, damit sie ihn ansehen konnte. Sie war nur ein paar Jahre älter als er, hübsch, mit der blassen Hautfarbe von Cairhien und langen, schwarzen Haaren, die ihr bis auf die Schultern reichten. »Ich kenne Euch nicht. Das ist mein Zimmer, meins und das von Thom Merrilin.«
»Die Wirtin meinte, Ihr würdet uns hier auf Thom warten lassen«, sagte Rand. »Falls Ihr Dena seid.«
»Uns?« Rand ging in das Zimmer hinein, so daß Loial geduckt eintreten konnte, und die Augenbrauen der jungen Frau hoben sich. »Also sind die Ogier zurückgekehrt. Ich bin Dena. Was wollt Ihr?« Sie betrachtete Rands Mantel so auffällig, daß das Weglassen der Anrede ›Lord‹ eine klare Absicht darstellte, auch wenn sich ihre Augenbrauen erneut hoben, als sie die Reiher auf der Scheide und dem Schwertgriff sah.
Rand hob das Bündel an, das er trug. »Ich habe Thoms Harfe und Flöte zurückgebracht. Und ich will ihn besuchen«, fügte er schnell hinzu, da er das Gefühl hatte, sie wolle sie schnell wieder loswerden. »Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen.«
Sie betrachtete das Bündel. »Thom jammert immer, daß er seine beste Flöte und die beste Harfe verloren hat, die er je besaß. So wie er sich anstellt, könnte man denken, er sei Barde an einem Königshof. Na ja. Ihr könnt hier warten, aber ich muß weiter üben. Thom sagt, nächste Woche wird er mich mit auftreten lassen.« Sie erhob sich graziös und setzte sich auf einen der beiden Stühle, wobei sie Loial bedeutete, sich aufs Bett zu setzen. »Zera würde Thom sechs Stühle bezahlen lassen, wenn Ihr auch nur einen davon zerbrecht, Freund Ogier.«
Rand setzte sich auf den anderen Stuhl und stellte sich und Loial vor. Der Stuhl knarrte sogar unter seinem Gewicht erbärmlich, und er fügte zweifelnd hinzu: »Seid Ihr Thoms Lehrling?«
Dena lächelte leicht. »Das — könnte man sagen.« Sie hatte wieder zu jonglieren begonnen, und ihr Blick verfolgte die wirbelnden Bälle.
»Ich habe noch nie von einer weiblichen Gauklerin gehört«, sagte Loial.
»Ich bin die erste.« Aus dem größeren Kreis wurden zwei kleine, die sich überschnitten. »Ich werde die ganze Welt zu sehen bekommen, bevor ich aufhöre. Thom sagt, wenn wir genug Geld haben, gehen wir nach Tear hinunter.« Sie ging dazu über, mit jeder Hand drei Bälle zu jonglieren. »Und dann vielleicht hinaus zu den Inseln des Meervolks. Die Atha'an Miere bezahlen Gaukler sehr gut.«
Rand sah sich in dem Raum mit all den Truhen und Behältern um. Er machte nicht den Eindruck eines Raumes, den man bald wieder verlassen wollte. In einem Topf auf dem Fensterbrett wuchs sogar eine Blume. Sein Blick fiel auf das einzige große Bett, auf dem Loial saß. Das ist mein Zimmer, meins und das von Thom Merrilin. Dena sah ihn durch das große Rad, das sie nun wieder jonglierte, herausfordernd an. Rand errötete.
Er räusperte sich. »Vielleicht sollten wir doch besser unten warten«, begann er, als sich die Tür öffnete und Thom mit flatterndem Umhang und einem verwirrenden Durcheinander von bunten Flicken eintrat. Flöte und Harfe hingen in ihren Behältern auf seinem Rücken. Die Behälter waren aus rötlichem Holz, das von der vielen Benutzung abgegriffen wirkte.
Dena ließ die Bälle unter ihrem Kleid verschwinden, rannte auf Thom zu und schlang ihm die Arme um den Hals. Sie mußte dabei auf Zehenspitzen stehen. »Du hast mir gefehlt«, sagte sie und küßte ihn.
Der Kuß zog sich eine Weile lang hin, so daß Rand sich schon fragte, ob er und Loial gehen sollten, aber dann ließ Dena ihre Fersen mit einem Seufzer zu Boden sinken.
»Weißt du, was dieser Idiot von Seaghan jetzt wieder getan hat, Mädchen?« sagte Thom, der auf sie heruntersehen konnte. »Er hat eine Bande von Großmäulern engagiert, die sich ›Schauspieler‹ nennen. Sie laufen herum und behaupten, Rogosh Adlerauge zu sein, und Blaes und Gaidal Cain und... Baaaah! Sie hängen hinter sich einen Fetzen bemalter Leinwand auf, damit die Zuschauer glauben sollen, diese Narren befänden sich im Thronsaal von Matuchin oder in einem Paß der Berge des Verderbens. Ich bringe die Zuhörer dazu, daß sie jede Flagge vor sich sehen, jede Schlacht riechen und jedes Gefühl selbst fühlen. Ich mache sie glauben, sie selbst seien Gaidal Cain. Seaghan wird es erleben, daß sie seinen Saal auseinandernehmen, wenn er die Bande nach mir auf die Bühne schickt.«
»Thom, wir haben Besuch. Loial, Sohn des Arent, Sohn des Halan. Oh, und einen Jungen, der sich Rand al'Thor nennt.«
Thom sah Rand über ihren Kopf hinweg an und runzelte die Stirn. »Laß uns eine Weile allein, Dena. Hier.« Er schob ihr ein paar Silbermünzen in die Hand. »Deine Messer sind fertig. Warum gehst du nicht und bezahlst sie Ivon?« Er streichelte ihre glatte Wange mit einem knorrigen Handrücken. »Geh nur. Ich werde dich schon dafür entschädigen.«
Sie sah ihn gespielt finster an, doch dann warf sie sich den Umhang über und murmelte: »Ich hoffe, Ivon hat das Wechselgeld parat.«
»Eines Tages wird sie eine Bardin sein«, sagte Thom stolz, nachdem sie weg war. »Sie hört eine Geschichte einmal — wirklich nur einmal! —, und sie gibt sie vollständig und richtig wieder; nicht nur den Text, sondern jede Einzelheit, auch den Rhythmus. Sie spielt die Harfe ausgesprochen gut, und sie hat beim ersten Mal schon besser Flöte gespielt als du jemals.« Er stellte die hölzernen Instrumentenkästen auf eine der größeren Truhen und ließ sich auf den von ihr verlassenen Stuhl fallen. »Als ich auf dem Weg nach hier durch Caemlyn kam, sagte mir Basel Gill, du seist in Begleitung eines Ogiers weitergezogen. Unter anderen.« Er verbeugte sich in Richtung Loial und brachte es auch sitzend fertig, seinen Umhang zu spreizen. »Ich freue mich, Euch kennenzulernen, Loial, Sohn des Arent, Sohn des Halan.«