Sie hatten die Ostgrenze von Vortor erreicht; die hohen Gebäude zu beiden Seiten waren die letzten im Ort.
Lichter in den oberen Fenstern verhöhnten sie, aber in den unteren Stockwerken waren die Fenster dicht verrammelt. Vor ihnen lagen die in Dämmerung gehüllten Hügel. Nicht einmal ein Bauernhaus war dort zu sehen. Allerdings — ganz unbewohnt waren sie nicht. Auf einem der größeren Hügel konnte er blasse Mauern erkennen, vielleicht eine Meile weit entfernt, und dahinter Gebäude.
»Wenn sie uns einmal dort draußen haben«, sagte Loial, »brauchen sie sich nicht mehr darum zu scheren, wer sie sieht.«
Rand deutete auf die Mauern um den Hügel. »Die sollten auch einen Trolloc aufhalten. Das muß das Herrenhaus eines Lords sein. Vielleicht lassen sie uns ein. Einen Ogier und einen ausländischen Lord? Der Mantel muß doch endlich mal für etwas gut sein!« Er blickte die Straße hinter ihnen hinunter. Noch kein Trolloc in Sicht, aber trotzdem zog er Loial um die Ecke des Gebäudes an ihrer Seite.
»Ich glaube, das ist das Zunfthaus der Feuerwerker, Rand. Die Feuerwerker hüten ihre Geheimnisse sorgfältig. Ich glaube nicht, daß sie selbst Galldrian hineinlassen würden.«
»In welches Fettnäpfchen bist du nun wieder getappt?« fragte eine vertraute Frauenstimme. Plötzlich lag ein gewisses Parfüm in der Luft.
Rand blieb der Mund offen stehen: Selene kam um die Ecke, von der sie beide gerade hergekommen waren. Ihr weißes Kleid schimmerte hell in der Dämmerung. »Wie bist du denn hierhergekommen? Was machst du hier? Du mußt sofort weg! Renn! Hinter uns sind Trollocs her!«
»Das habe ich gesehen.« Ihre Stimme klang trocken, kühl und beherrscht. »Ich habe dich gesucht, und du läßt dich von Trollocs wie ein Schaf in den Pferch treiben.
Kann sich der Mann so behandeln lassen, der das Horn von Valere besitzt?«
»Ich habe es nicht bei mir«, fauchte er, »und ich weiß auch nicht, wie es mir helfen könnte. Die toten Helden kommen wohl kaum zurück, um mich vor Trollocs zu retten. Selene, du mußt weg! Sofort!« Er spähte um die Ecke.
Keine hundert Schritt entfernt steckte ein Trolloc vorsichtig den gehörnten Kopf um eine andere Ecke und witterte in den Abend hinein. Der große Schatten an seiner Seite mußte von einem weiteren Trolloc stammen. Und dann waren da auch noch kleinere Schatten. Schattenfreunde.
»Zu spät«, murmelte Rand. Er schob den Flötenkasten zur Seite, zog den Umhang aus und legte ihn ihr um die Schultern. Er war lang genug, um ihr weißes Kleid ganz zu verdecken und noch über den Boden zu schleifen. »Du mußt ihn hochheben, damit du rennen kannst«, sagte er ihr. »Loial, wenn sie uns nicht hineinlassen, müssen wir eine Möglichkeit finden, uns hineinzuschleichen.«
»Aber, Rand... «
»Willst du lieber auf die Trollocs warten?« Er gab Loial einen sanften Stoß, damit er loslief, und faßte Selenes Hand, um Loial hinterherzurennen. »Such uns einen Weg, auf dem wir uns nicht gerade den Hals brechen, Loial.«
»Du regst dich viel zu sehr auf«, sagte Selene. Es schien ihr leichter zu fallen, Loial in der zunehmenden Dämmerung zu folgen, als Rand. »Suche das Einssein, und beruhige dich. Einer, der groß sein will, muß immer ruhig bleiben.«
»Die Trollocs könnten dich hören«, entgegnete er. »Ich will kein großer Mann sein.« Er glaubte, von ihr ein irritiertes Seufzen zu hören.
Manchmal rollten Steine unter ihren Füßen weg, aber ansonsten war der Weg über die Hügel nicht schwierig, trotz der langen Schatten der Dämmerung. Bäume und sogar Sträucher waren schon lange als Feuerholz abgehackt worden. Nichts wuchs hier außer kniehohem Gras, das leise um ihre Beine raschelte. Ein sanfter Nachtwind kam auf. Rand machte sich Sorgen, daß er den Trollocs ihre Witterung zutragen könnte.
Loial blieb stehen, als sie die Mauern erreichten. Sie waren doppelt so hoch wie der Ogier. Die Steine waren hell verputzt. Rand spähte zurück in Richtung Vortor. Von der Stadtmauer her glänzten die Reihen erleuchteter Fenster wie die Speichen eines Rads.
»Loial«, sagte er leise. »Kannst du sie sehen? Folgen sie uns?«
Der Ogier blickte in Richtung Vortor und nickte dann unglücklich. »Ich sehe nur ein paar Trollocs, aber sie kommen hierher. Sie rennen. Rand, ich glaube wirklich nicht... «
Selene unterbrach ihn. »Wenn er hinein will, Alantin, braucht er eine Tür. So wie die dort.« Sie zeigte auf einen dunklen Fleck ein bißchen weiter hinten an der Mauer. Obwohl sie es behauptete, war Rand nicht sicher, daß es wirklich eine Tür war, aber als sie hinging und daran zog, öffnete sie sich.
»Rand...«, begann Loial.
Rand schob ihn auf die Tür zu. »Später, Loial! Und leise! Wir verstecken uns gerade, erinnerst du dich noch?« Sie drückten sich hinein und schlossen die Tür hinter sich. Es gab Halterungen für einen Riegel, aber es war kein Riegel zu sehen. Sie würde niemanden aufhalten, doch vielleicht zögerten die Trollocs, hereinzukommen.
Sie befanden sich in einer hügelan führenden Gasse zwischen zwei langen, niedrigen, fensterlosen Gebäuden. Zuerst glaubte er, sie bestünden ebenfalls aus Stein, doch dann wurde ihm klar, daß hier lediglich Holz weiß verputzt worden war. Es war nun dunkel genug, daß der von den Wänden reflektierte Mondschein eine trübe Beleuchtung ergab.
»Besser, von den Feuerwerkern gefangengenommen zu werden als von den Trollocs«, murmelte er und ging nach oben.
»Aber das habe ich dir doch schon die ganze Zeit sagen wollen«, protestierte Loial. »Ich habe gehört, die Feuerwerker töten Eindringlinge. Sie bewahren ihre Geheimnisse auf sehr wirksame Art und Weise, Rand.«
Rand blieb wie angewurzelt stehen und blickte zur Tür zurück. Die Trollocs waren noch immer dort draußen. Im schlimmsten Fall war es bestimmt besser, sich mit Menschen auseinanderzusetzen als mit Trollocs. Vielleicht war er in der Lage, die Feuerwerker dazu zu überreden, sie laufenzulassen; Trollocs hörten nicht zu, bevor sie töteten. »Tut mir leid, daß ich dich in diese Lage gebracht habe, Selene.«
»Gefahr birgt einen gewissen Reiz«, sagte sie leise. »Und bis jetzt wurdest du gut damit fertig. Sollen wir nachsehen, was wir dort entdecken?« Sie streifte an ihm vorbei die Gasse hoch. Rand folgte. Ihr würziger Duft stieg ihm in die Nase. Oben auf dem Hügel weitete sich die Gasse zu einer breiten Fläche geglätteten Lehmbodens, der beinahe genauso weiß war wie der Verputz an den Wänden. Der Platz war fast ganz von weiteren weißen, fensterlosen Gebäuden umgeben, in deren Schatten neue Gassen lagen. Zur Rechten stand jedoch ein Gebäude mit Fenstern, aus denen Licht auf den blassen Lehmboden fiel.
Er drückte sich zurück in den Schatten der Gasse, als ein Mann und eine Frau erschienen, die langsam über den Platz schritten.
Ihre Kleidung stammte offensichtlich nicht aus Cairhien. Der Mann trug Kniebundhosen, die genauso bauschig waren wie seine Hemdsärmel. Beides war goldgelb, und an den Hosenbeinen sowie auf der Hemdbrust befanden sich Stickereien. Das Kleid der Frau mit einem kunstvoll gearbeiteten Brustteil schien von blassem Grün, und ihr Haar war zu einer Unzahl kleiner Zöpfe geflochten.
»Alles ist bereit, sagt Ihr?« wollte die Frau wissen. »Seid Ihr sicher, Tammuz? Alles?«
Der Mann spreizte die Hände. »Ihr müßt mich ständig überwachen, Aludra. Es ist wirklich alles bereit. Die Vorstellung könnte in diesem Moment beginnen.«
»Die Tore und Türen sind verriegelt? Alle...?« Ihre Stimme verklang, als sie zum hinteren Ende des beleuchteten Gebäudes kamen.
Rand betrachtete den offenen Platz, erkannte aber fast nichts. In der Mitte standen einige Dutzend Röhren, jede beinahe so hoch wie er und einen Fuß oder mehr weit. Sie waren auf großen Holzpodesten befestigt. Aus jeder Röhre kam ein dunkler, verdrehter Strick heraus, der sich über den Boden zog und schließlich auf der anderen Seite hinter einer niedrigen, vielleicht drei Schritt langen Mauer verschwand. Rund um den Platz verteilt standen Unmengen von Holzgestellen, an denen Schüsseln und Röhren und gespaltene Stöcke und andere Sachen befestigt waren.