»Es spielt keine Rolle, wie viele er hat«, sagte Rand. »Zehn sind genauso schlimm wie hundert. Wenn uns zehn Trollocs angreifen, glaube ich nicht, daß wir ihnen wieder entkommen können.« Er vermied es, daran zu denken, daß es für ihn ja vielleicht — vielleicht — einen Weg gab, mit zehn Trollocs fertigzuwerden. Es hatte schließlich auch nicht geklappt, als er Loial helfen wollte.
»Das glaube ich auch nicht. Ich schätze, wir haben auch nicht genug Geld, um uns sehr weit weg befördern zu lassen, aber selbst wenn wir es hätten und versuchten, den Hafen von Vortor zu erreichen — na ja, Fain hat bestimmt Schattenfreunde dorthin geschickt, um aufzupassen. Falls er glaubt, wir wollten per Schiff entkommen, würde er wahrscheinlich keine Rücksicht mehr darauf nehmen, wer die Trollocs sehen könnte. Und auch wenn wir uns irgendwie von ihnen befreien könnten, müßten wir alles den Stadtwachen erklären, und die würden vermutlich nicht glauben, daß wir die Truhe nicht öffnen können, also... «
»Wir lassen doch niemand aus Cairhien die Truhe überhaupt sehen, Loial!«
Der Ogier nickte. »Und die Hafenanlagen der Stadt selbst nützen uns auch nichts.« Der Stadthafen war für die Getreideschiffe und die Jachten der Lords und Ladies reserviert. Niemand kam ohne Erlaubnis dort hinein. Man konnte von der Stadtmauer aus hinunterblicken, aber ein Sprung von dort oben wäre selbst für Loial tödlich. »Ich denke, es ist einfach zu schade, daß wir nicht nach Stedding Tsofu können. Die Trollocs betreten niemals ein Stedding. Aber sie würden uns wohl gar nicht erst soweit kommen lassen, ohne anzugreifen.«
Rand antwortete nicht. Sie hatten das große Wachgebäude innerhalb der Stadtmauer erreicht, durch das sie zuerst Cairhien betreten hatten. Draußen wimmelte es in den Straßen von Vortor, von den aufmerksamen Blicken zweier Wachsoldaten beobachtet. Rand glaubte einen Mann in einst gepflegter schienarischer Kleidung gesehen zu haben, der sich bei ihrem Anblick rückwärts in die Menge hinein verzogen hatte, doch sicher war er sich nicht. Es gab einfach zu viele Leute in Kleidern aus aller Herren Länder, und alle hatten es eilig. Er ging die Stufen zum Wachgebäude hinauf, vorbei an den Soldaten mit ihren Brustpanzern, die zu beiden Seiten des Eingangs standen.
Das große Foyer war von harten Holzbänken eingerahmt, auf denen die Leute saßen, die dort zu tun hatten. Die meisten waren einfach und dunkel gekleidet und warteten voll demütiger Geduld. Es waren auch ein paar aus Vortor darunter, die durch die Schäbigkeit und Farbenfreude ihrer Kleidung auffielen. Sie hofften offensichtlich darauf, sich in der Stadt eine Arbeit suchen zu dürfen.
Rand ging geradewegs zu dem langen Tisch im hinteren Teil des Raums. Dahinter saß nur ein einzelner Mann, kein Soldat, mit einem grünen Streifen auf dem Mantel. Er war ein molliger Bursche mit zu straff gespannter Haut. Er sortierte die Papiere auf dem Tisch und schob sein Tintenfaß zweimal hin und her, bevor er aufblickte und Rand und Loial mit einem aufgesetzten Lächeln begrüßte.
»Wie kann ich Euch helfen, Herr?«
»Genauso, wie Ihr gestern hofftet, mir helfen zu können«, sagte Rand geduldiger, als es seinen Gefühlen entsprach, »und vorgestern und am Tag zuvor. Ist Lord Ingtar gekommen?«
»Lord Ingtar, Herr?«
Rand atmete tief ein und ließ die Luft langsam wieder heraus. »Lord Ingtar aus dem Haus Schinowa aus Schienar. Der gleiche, nach dem ich mich jeden Tag erkundigt habe, seit ich hier ankam.«
»Niemand, der diesen Namen führt, hat die Stadt betreten, Herr.«
»Seid Ihr sicher? Müßt Ihr nicht wenigstens in Eure Liste sehen?«
»Herr, die Liste der Ausländer, die nach Cairhien kommen, wird zwischen den Wachhäusern jeden Tag bei Sonnenaufgang und bei Sonnenuntergang ausgetauscht, und ich sehe sie durch, sobald ich sie hier habe. Kein Lord aus Schienar hat in letzter Zeit die Stadt betreten.«
»Und Lady Selene? Bevor Ihr wieder nachfragt, nein, ich weiß nicht, aus welchem Haus sie stammt. Aber ich habe Euch ihren Namen genannt, und ich habe sie Euch bereits dreimal beschrieben. Reicht das noch nicht?«
Der Mann spreizte die Hände. »Es tut mir leid, Herr. Es ist sehr schwer, da ich ihr Haus nicht kenne.« Sein Gesichtsausdruck war absolut nichtssagend. Rand fragte sich, ob er es ihm sagen würde, wenn er etwas wüßte.
Eine Bewegung an einer der Türen hinter dem Schreibtisch erregte Rands Aufmerksamkeit. Ein Mann wollte den Vorraum betreten, wandte sich jedoch hastig wieder zum Gehen. »Vielleicht kann mir Hauptmann Caldevwin helfen«, sagte Rand zu dem Beamten.
»Hauptmann Caldevwin, Herr?«
»Ich habe ihn gerade hinter Euch gesehen.«
»Es tut mir leid, Herr. Wenn sich ein Hauptmann Caldevwin im Wachhaus befände, müßte ich es eigentlich wissen.«
Rand starrte ihn zornerfüllt an, bis Loial seine Schulter berührte. »Rand, ich glaube, wir können wohl gehen.«
»Danke für Eure Hilfe«, sagte Rand mit angespannter Stimme. »Ich komme morgen wieder.«
»Es wird mir ein Vergnügen sein, Euch zu helfen«, sagte der Mann mit seinem falschen Lächeln.
Rand stolzierte so schnell aus dem Wachhaus, daß Loial sich beeilen mußte, um ihn auf der Straße wieder einzuholen. »Du weißt, daß er gelogen hat, Loial.« Er verlangsamte seinen Schritt keineswegs, sondern eilte davon, als wolle er seine Wut durch die Anstrengung dämpfen. »Caldevwin war da. Er hat vielleicht auch in anderer Hinsicht gelogen. Ingtar ist möglicherweise schon längst da und sucht uns. Ich wette, er weiß auch, wer Selene ist.«
»Vielleicht, Rand. Daes Dae'mar... «
»Licht, ich habe es satt, immer nur von dem Großen Spiel zu hören. Ich will es nicht spielen. Ich will mich nicht hineinverwickeln lassen.« Loial ging neben ihm her und sagte nichts. »Ich weiß«, sagte Rand schließlich. »Sie glauben, ich sei ein Lord, und in Cairhien werden sogar ausländische Herren in das Spiel mit einbezogen. Ich wünschte, ich hätte diesen Mantel niemals angezogen.«
Moiraine, dachte er mit aufsteigender Bitterkeit. Sie macht mir nach wie vor Kummer. Aber sofort gab er, wenn auch zögernd, zu, daß sie an seiner jetzigen Lage wohl kaum eine Schuld trug. Es hatte immer irgendeinen Grund gegeben, anderen vorzuspielen, was er gar nicht war. Zuerst mußte er Hurin bei Laune halten und dann Selene beeindrucken. Danach schien es gar keine andere Möglichkeit mehr gegeben zu haben. Seine Schritte wurden langsamer, bis er schließlich ganz stehenblieb. »Als Moiraine mich gehen ließ, glaubte ich, nun wäre alles wieder ganz einfach. Sogar die Suche nach dem Horn, auch mit... mit allem eben... na ja, ich stellte mir das halt alles einfach vor.« Selbst mit Saidin im Kopf? »Licht, was gäbe ich nicht darum, wenn alles wieder einfach und unkompliziert wäre!«
»Ta'veren«, begann Loial.
»Davon will ich auch nichts mehr hören.« Rand lief wieder genauso schnell wie vorher weiter. »Alles, was ich will, ist Mat den Dolch geben und Ingtar das Horn.« Und dann? Verrückt werden? Sterben? Wenn ich sterbe, bevor ich dem Wahnsinn verfalle, tue ich wenigstens niemandem weh. Aber sterben will ich auch wieder nicht. Lan kann ja ›Schwert in die Scheide‹ erwähnen, aber ich bin Schäfer und kein Behüter. »Wenn ich es nicht mehr berühren kann«, murmelte er, »vielleicht kann ich dann... Owyn hätte es beinahe geschafft.«
»Was, Rand? Ich habe dich nicht verstanden.«
»Ach, nichts«, sagte Rand müde. »Ich wünschte, Ingtar käme endlich. Und Mat und Perrin.«
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Rand war tief in Gedanken versunken. Thoms Neffe hatte es drei Jahre lang durchgehalten, weil er die Macht nur dann benutzte, wenn er es für unbedingt nötig hielt. Wenn Owyn es fertiggebracht hatte, das so einzuschränken, müßte es doch auch möglich sein, ganz ohne die Macht auszukommen, gleich, wie verführerisch Saidin auch sein mochte.