»Gibt es hier keine Seherin?« wollte Rand wissen. »Er braucht Hilfe.« Die Frau sah ihn verständnislos an, und er bemühte sich, sich an die anderen Bezeichnungen zu erinnern, mit denen die Menschen solche Frauen bezeichneten, die in den Zwei Flüssen Seherinnen gewesen wären. »Eine Weise Frau? Eine Frau, die ihr Mutter soundso nennt? Eine Frau, die sich mit Kräutern und Heilkunst auskennt?«
»Ich bin Leserin, falls Ihr das meint«, sagte die Frau, »aber alles, was ich für den hier tun kann, ist, ihm Linderung zu verschaffen. Ich fürchte, in seinem Kopf ist etwas gebrochen.«
»Rand! Du bist es tatsächlich!«
Rand fuhr herum. Es war Mat, der mit dem Bogen auf dem Rücken sein Pferd durch die Menge führte. Ein Mat mit blassem und eingefallenem Gesicht, aber immer noch Mat, und er grinste sogar schwach. Hinter ihm kam Perrin. Seine gelben Augen leuchteten im Feuerschein und zogen genausoviele Blicke an wie die Flammen. Und Ingtar, der einen Mantel mit steifem Kragen statt der Rüstung trug, stieg nun ebenfalls vom Pferd. Der Griff seines Schwertes ragte aber wie immer über seinen Schultern hervor.
Rand fühlte, wie ihn ein Schauer überlief. »Es ist zu spät«, sagte er zu ihnen. »Ihr seid zu spät gekommen.« Und dann setzte er sich auf die Straße und fing an zu lachen.
31
Auf der Spur
Rand wußte nicht, daß Verin da war, bis die Aes Sedai sein Gesicht in ihre Hände nahm. Einen Augenblick lang erkannte er Besorgtheit in ihren Augen und vielleicht sogar Angst, und dann fühlte er sich, als habe man ihn in kaltes Wasser getaucht. Es war kein Gefühl von Nässe, aber er fühlte sich erfrischt. Er schauderte einmal kurz, und sein Lachen erstarb. Sie verließ ihn und beugte sich über Hurin. Die Leserin beobachtete sie genau. Rand auch. Was macht sie hier? Als ob ich das nicht wüßte.
»Wo seid ihr denn abgeblieben?« wollte Mat heiser wissen. »Ihr seid einfach verschwunden, und nun seid ihr vor uns in Cairhien angekommen. Loial?« Der Ogier zuckte unsicher die Achseln, und seine Ohren zuckten mit. Die Hälfte der Zuschauer hatte sich vom Feuer abgewandt und beobachtete die Neuankömmlinge. Ein paar drückten sich näher heran, um zu lauschen.
Rand ließ sich von Perrin auf die Beine helfen. »Wie habt ihr die Schenke gefunden?« Er sah sich nach Verin um, die neben Hurin kniete und den Kopf des Schnüfflers in den Händen hielt. »Sie?«
»In gewisser Weise«, sagte Perrin. »Die Wachen am Tor wollten unsere Namen wissen, und ein Bursche, der gerade aus dem Wachhaus kam, fuhr zusammen, als er den Namen Ingtar hörte. Er sagte, er kenne ihn nicht, aber sein Lächeln schrie förmlich meilenweit das Wort ›Lüge‹ heraus.«
»Ich glaube, ich weiß, wer gemeint ist«, sagte Rand.
»Er lächelt die ganze Zeit so.«
»Verin zeigte ihm ihren Ring«, warf Mat ein, »und flüsterte ihm etwas ins Ohr.«
Er wirkte und klang krank, die Wangen waren gerötet, und die Haut spannte sich straff über die Knochen, doch er brachte ein Grinsen zustande. Rand hatte seine Backenknochen noch nie so hervortreten sehen. »Ich konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber ich wußte nicht, ob ihm zuerst die Augen aus dem Kopf fallen würden oder er seine Zunge verschluckte. Mit einem Mal konnte er nicht genug für uns tun. Er sagte uns, daß ihr uns erwartet, und auch, wo ihr euch aufhaltet. Bot uns an, uns höchstpersönlich hinzubringen, aber er sah ganz schön erleichtert aus, als Verin das ablehnte.« Er schnaubte. »Lord Rand aus dem Hause al'Thor.«
»Das ist eine zu lange Geschichte, um hier gleich alles zu erklären«, sagte Rand. »Wo sind Uno und die anderen? Wir werden sie brauchen.«
»In Vortor.« Mat sah Rand finster an und fuhr bedächtig fort: »Uno sagte, sie blieben lieber dort als innerhalb der Stadtmauer. Nach dem zu schließen, was ich sehe, wäre ich lieber bei ihnen. Rand, warum werden wir Uno brauchen? Hast du... sie... gefunden?«
Das war der Augenblick, den Rand gerne vermieden hätte. Er atmete tief ein und sah seinem Freund in die Augen. »Mat, ich hatte den Dolch, und ich verlor ihn. Die Schattenfreunde haben ihn wieder geholt.« Er hörte, wie die lauschenden Zuschauer nach Luft schnappten, aber es war ihm gleich. Sie konnten ihr Großes Spiel spielen, wenn sie wollten, aber Ingtar war gekommen, und er hatte nun seine Ruhe. »Sie können jedoch noch nicht weit sein.«
Ingtar hatte vorher den Mund gehalten, aber jetzt trat er vor und packte Rand am Arm. »Ihr habt es gehabt?
Und den...«, er blickte sich nach der neugierigen Menge um; »... das andere Ding?«
»Sie haben sich auch das wieder geholt«, sagte Rand leise. Ingtar schlug sich mit der Faust auf die Handfläche und wandte sich ab. Ein paar Cairhienianer wichen vor seinem wilden Blick zurück.
Mat kaute auf seiner Lippe herum und schüttelte dann den Kopf. »Ich wußte nicht, daß ihr ihn gefunden hattet, also fühle ich mich nicht, als habe ich ihn verloren. Er ist eben immer noch verloren.« Es war klar, daß er von dem Dolch sprach und nicht vom Horn von Valere. »Wir finden ihn schon wieder. Jetzt haben wir zwei Schnüffler. Perrin ist auch einer. Er folgte der Spur bis nach Vortor, nachdem du mit Loial und Hurin verschwunden warst. Ich glaubte, du wärst vielleicht einfach weggelaufen, um... na ja, du weißt schon, was ich meine. Wo warst du nun eigentlich wirklich? Ich verstehe immer noch nicht, wie du solch einen Vorsprung vor uns gewinnen konntest. Dieser Bursche behauptete, ihr wärt schon seit Tagen hier.«
Rand sah Perrin an — er ein Schnüffler? — und bemerkte so, daß Perrin ihn ebenfalls musterte. Er glaubte, Perrin irgend etwas murmeln zu hören. Schattentöter? Ich muß ihn falsch verstanden haben. Perrins gelber Blick hielt ihn eine Weile lang fest. Er schien Geheimnisse über ihn zu enthalten. Er sagte sich, daß er sich das sicherlich nur einbildete — ich bin doch nicht verrückt — noch nicht —, und riß den Blick von Perrin los.
Verin half gerade einem sichtlich wackligen Hurin auf die Beine. »Ich fühle mich so leicht wie Gänsedaunen«, sagte er. »Noch ein wenig müde, aber...« Er sprach nicht weiter. Er schien sie zum erstenmal bewußt zu sehen und auch jetzt erst zu begreifen, was geschehen war.
»Die Erschöpfung wird noch ein paar Stunden anhalten«, sagte sie zu ihm. »Es ist anstrengend für den Körper, sich selbst schnell zu heilen.«
Die Leserin aus Cairhien erhob sich. »Aes Sedai?« fragte sie leise. Verin neigte den Kopf, und die Leserin knickste tief.
So leise sie auch gewesen waren: Die Worte ›Aes Sedai‹ kursierten durch die Menge und lösten Ehrfurcht, Angst und auch Zorn aus. Mittlerweile blickten alle zu ihnen herüber. Nicht einmal Cuale beachtete seine brennende Schenke noch. Rand war der Meinung, daß ein wenig Vorsicht nun wohl angebracht sei.
»Habt ihr schon Zimmer gefunden?« fragte er. »Wir müssen miteinander reden, und hier geht es nicht.«
»Gute Idee«, meinte Verin. »Ich war früher schon hier im Großen Baum. Dort gehen wir hin.«
Loial ging die Pferde holen. Das Dach der Schenke war vollends eingestürzt, doch die Ställe waren unversehrt. Bald ritten sie durch die Straßen, jedenfalls alle außer Loial, der behauptete, sich zu sehr ans Laufen gewöhnt zu haben. Perrin hielt die Führleine eines der Packpferde, die sie mit nach Süden gebracht hatten.
»Hurin«, fragte Rand, »wie schnell wirst du wieder soweit sein, daß du erneut ihrer Spur folgen kannst? Kannst du ihr auch folgen? Die Männer, die dich niederschlugen und das Feuer legten, haben doch wohl eine Spur hinterlassen, oder?«
»Ich kann ihr schon jetzt folgen, Lord Rand. Und ich konnte sie auf der Straße riechen. Der Gestank wird sich aber nicht lang halten. Es waren keine Trollocs dabei, und sie haben niemanden getötet. Nur Männer, Lord Rand. Schattenfreunde, glaube ich, aber das kann man oft am Geruch nicht feststellen. Vielleicht einen Tag lang wird er sich halten, dann ist er verflogen.«