»Ich glaube, sie können die Truhe genausowenig öffnen, Rand«, sagte Loial, »sonst hätten sie einfach das Horn mitgenommen. Das wäre doch viel einfacher gewesen, als die ganze Truhe wegzuschleppen.«
Rand nickte. »Sie müssen sie in einen Karren oder auf ein Pferd gepackt haben. Sobald sie sie aus Vortor hinausgeschafft haben, werden sie sich wieder den Trollocs anschließen — ganz klar. Dieser Spur wirst du bestimmt folgen können, Hurin.«
»Bestimmt, Lord Rand.«
»Dann mußt du dich ausruhen, bis du wieder stark genug bist«, sagte Rand. Der Schnüffler wirkte bereits einigermaßen sicher auf den Beinen, aber er saß in sich zusammengesunken und mit müdem Gesicht auf dem Reittier. »Im günstigsten Fall haben sie nur wenige Stunden Vorsprung. Wenn wir schnell reiten... « Plötzlich bemerkte er, daß die anderen ihn alle ansahen: Verin und Ingtar, Mat und Perrin. Ihm wurde klar, was er getan hatte, und seine Wangen liefen rot an. »Es tut mir leid, Ingtar. Ich habe mich nun mal daran gewöhnt, das Kommando zu führen, schätze ich. Ich versuche nicht, Euren Platz einzunehmen.«
Ingtar nickte bedächtig. »Moiraine hat eine gute Wahl getroffen, als sie Lord Agelmar bat, Euch zu meinem Stellvertreter zu ernennen. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Amyrlin hätte Euch hier das Kommando übergeben.« Der Schienarer lachte kurz auf. »Zumindest habt Ihr es tatsächlich fertiggebracht, das Horn zu berühren.«
Danach ritten sie schweigend weiter.
Der Große Baum hätte ein Zwilling des Verteidigers der Drachenmauer sein können. Das Gebäude sah wie ein hoher Steinwürfel aus, und der Schankraum war mit dunkler Holztäfelung ausgestattet und mit viel Silber geschmückt. Auf dem Kaminsims stand eine große, matt schimmernde Uhr. Die Wirtin hätte Cuales Schwester sein können. Die Meisterin Tiedra war genauso mollig und hatte ein paar derselben unbewußten Angewohnheiten —und den gleichen durchdringenden Blick; dieselbe Art, auf Dinge zu hören, die unausgesprochen im Raum hingen. Aber Tiedra kannte Verin, und das Lächeln, das sie der Aes Sedai zur Begrüßung schenkte, wirkte warm und herzlich. Sie erwähnte die Bezeichnung Aes Sedai nicht, aber Rand war sicher, daß sie Bescheid wußte.
Tiedra und ein Dienerschwarm kümmerten sich um ihre Pferde und zeigten ihnen dann ihre Zimmer. Rands Zimmer war genauso schön wie das verbrannte, aber er interessierte sich vor allem für die große kupferne Badewanne, die von zwei Dienern durch die Tür gezwängt wurde. Küchenmädchen brachten anschließend Eimer dampfenden Wassers von der Küche hoch. Ein Blick in den Spiegel über dem Waschtisch zeigte ihm ein Gesicht, das aussah, als habe man es mit Holzkohle geschrubbt. Sein Mantel wies auf der roten Wolle schwarze Schmierer auf.
Er zog sich aus und kletterte in die Wanne. Dort dachte er genauso lange nach, wie er sich wusch. Verin war hier. Eine der drei Aes Sedai, bei denen er darauf vertrauen konnte, daß sie ihn weder selbst einer Dämpfung unterziehen noch ihn jenen übergeben würden, die das tun würden. Jedenfalls schien es ihm so. Eine der drei, die ihm weismachen wollten, er sei der Wiedergeborene Drache, oder die ihn als falschen Drachen benützen wollten. Sie ist das Auge Moiraines, das mich beobachtet, Moiraines Hand, die an meinen Fäden zieht. Aber ich habe die Fäden durchtrennt. Seine Satteltaschen waren hochgebracht worden, zusammen mit einem Bündel frischer Kleidung aus der Ladung des Packpferds. Er trocknete sich ab und öffnete das Bündel. Dann seufzte er. Er hatte vergessen gehabt, daß alle anderen Mäntel genauso reich geschmückt waren wie der, den er achtlos über eine Stuhllehne geworfen hatte, damit ihn eines der Mädchen säuberte. Nach einem kurzem Zögern wählte er den schwarzen Mantel aus, dessen Farbe seiner Stimmung entsprach. Silberne Reiher hingen an seinem Stehkragen, und die Ärmel waren mit silbernen Wasserfällen geschmückt — Wasser, daß an den gezackten Felsen als Gischt brodelte.
Als er die Sachen aus seinem alten Mantel in den neuen steckte, fand er die Einladungen wieder. Abwesend steckte er sie in die Tasche, während er Selenes beide Briefe betrachtete. Er fragte sich, warum er sich so närrisch benommen hatte. Sie war die schöne, junge Tochter eines Adelshauses. Er war ein Schäfer, den die Aes Sedai zu benützen versuchten; ein Mann, der dazu verdammt war, wahnsinnig zu werden, falls er nicht vorher starb. Und doch konnte er ihre Anziehungskraft selbst aus ihrer Schrift heraus spüren, konnte beinahe ihr Parfum riechen.
»Ich bin Schäfer«, erzählte er den Briefen, »und kein großer Mann, und wenn ich mal irgendwann heiraten sollte, dann Egwene. Aber sie will Aes Sedai werden, und wie kann ich überhaupt eine Frau heiraten, eine Frau lieben, wenn ich verrückt werde und sie vielleicht dann umbringe?«
Worte konnten den Eindruck von Selenes Schönheit nicht mindern oder die Art, wie sie sein Blut zum Kochen brachte, wenn sie ihn nur anblickte. Es schien ihm fast, als befände sie sich bei ihm im Zimmer, als röche er ihr Parfum wirklich. Er sah sich schnell um und lachte dann über seine närrische Anwandlung. Er war allein.
»Ich habe schon Einbildungen, als sei ich bereits auf dem Weg zum Wahnsinn«, murmelte er.
Mit einem Mal öffnete er den Verschluß der Lampe auf dem Nachttisch, zündete sie an und hielt die Briefe in die Flamme. Außerhalb der Schenke schwoll der Wind zu einem Heulen an. Er drang durch die Läden herein und entfachte die Flamme, so daß die Briefe lodernd brannten. Hastig warf er die brennenden Zettel in den kalten Kamin, gerade rechtzeitig, bevor er sich daran die Finger verbrannte. Er wartete, bis der letzte Rauchfaden verflogen war, dann schnallte er sich das Schwert um und verließ den Raum.
Verin hatte für sie ein privates Speisezimmer genommen, wo auf den Regalen an den dunkel getäfelten Wänden noch mehr Silber stand als im Schankraum. Mat jonglierte drei hartgekochte Eier und bemühte sich, dabei einen selbstverständlichen Eindruck zu erwecken. Ingtar blickte mit finsterer Miene in den kalten Kamin. Loial hatte immer noch ein paar Bücher aus Fal Dara in den Manteltaschen gehabt und saß lesend neben einer Lampe.
Perrin saß zusammengesunken am Tisch und betrachtete seine gefalteten Hände. Mit seinem feinen Geruchssinn roch er das Bienenwachs, das man zum Putzen der Täfelung benützte. Er war es, dachte er. Rand ist der Schattentöter. Licht, was geschieht mit uns allen? Seine Hände verkrampften sich zu großen, kantigen Fäusten. Diese Hände sind für einen Schmiedehammer bestimmt und nicht für eine Streitaxt. Er blickte auf, als Rand eintrat. Perrin glaubte, einen entschlossenen Zug an ihm zu bemerken, als habe er sich zu einem ganz bestimmten Vorgehen entschieden. Die Aes Sedai bedeutete Rand, sich auf einen hohen Lehnstuhl ihr gegenüber zu setzen.
»Wie geht es Hurin?« fragte Rand, während er sein Schwert nach hinten schob, damit er sich setzen konnte. »Ruht er?«
»Er bestand darauf, rauszugehen«, antwortete Ingtar. »Ich sagte ihm, er solle die Spur nur soweit verfolgen, bis er Trollocs roch. Von da an können wir sie morgen wiederaufnehmen. Oder wollt Ihr heute abend noch hinterherreiten?«
»Ingtar«, sagte Rand nervös, »ich wollte wirklich nicht das Kommando übernehmen. Ich habe mir einfach nichts dabei gedacht.« Und doch sagte er das nicht so unsicher, wie er so etwas früher gesagt hätte, dachte sich Perrin. Schattentöter. Wir ändern uns alle. Ingtar antwortete nicht. Er starrte weiter in den dunklen Kamin.
»Es gibt da einige Dinge, die mich sehr interessieren, Rand«, sagte Verin ruhig. »Eines davon ist, wie Ihr spurlos aus Ingtars Lager verschwinden konntet. Ein weiteres wäre, wie Ihr in Cairhien eine Woche vor uns ankommen konntet. Die Angaben des Beamten waren in dieser Hinsicht ganz eindeutig. Ihr müßt geflogen sein.«
Eines von Mats Eiern fiel zu Boden und zerbrach. Aber er beachtete es gar nicht. Er sah Rand an, und auch Ingtar hatte sich umgedreht. Loial gab vor, immer noch zu lesen, aber sein Blick war besorgt, und seine Ohren standen in steifen, haarigen Spitzen hoch.