Perrin wurde klar, daß auch er Rand anstarrte. »Also, geflogen sind sie nicht«, sagte er. »Ich kann keine Flügel erkennen. Vielleicht hat er uns auch noch Wichtigeres mitzuteilen.« Verin widmete ihm kurz ihre Aufmerksamkeit. Er brachte es fertig, ihr in die Augen zu sehen, aber er war es auch, der den Blick zuerst abwandte.
Aes Sedai. Licht, warum waren wir solche Narren, einer Aes Sedai zu folgen? Rand warf ihm einen dankbaren Blick zu, und Perrin grinste ihn an. Es war nicht der alte Rand — er schien mittlerweile in diesen prächtigen Mantel hineingewachsen zu sein; jetzt wirkte er an ihm passend —aber er war doch immer noch der Junge, mit dem Perrin aufgewachsen war. Schattentöter. Ein Mann, vor dem die Wölfe Ehrfurcht haben. Ein Mann, der die Macht benützt. »Ich habe nichts dagegen, jetzt ein wenig zu berichten«, sagte Rand und begann einfach drauflos zu erzählen.
Perrin lauschte mit offenem Mund. Portalsteine. Andere Welten, wo das Land sich ständig zu verändern schien. Hurin, der einer Spur folgte, wo die Schattenfreunde einmal sein würden! Und eine schöne Frau in Not, wie in der Erzählung eines Gauklers.
Mat pfiff leise und staunend durch die Zähne. »Und sie hat euch zurückgebracht? Mit Hilfe eines dieser — Steine?«
Rand zögerte einen Moment lang. »Das muß sie wohl«, sagte er. »Und deshalb sind wir so lange vor euch hier angekommen. Als Fain ankam, haben Loial und ich in der Nacht das Horn von Valere zurückgestohlen und sind weiter nach Cairhien geritten, weil ich nicht glaubte, daß wir an ihnen vorbeikommen konnten, wenn sie erst richtig wach waren, und weil ich wußte, daß Ingtar sie weiter nach Süden verfolgen und schließlich auch in Cairhien ankommen würde.«
Schattentöter. Rand sah ihn an, und seine Augen zogen sich zusammen. Perrin wurde klar, daß er die Bezeichnung laut ausgesprochen hatte. Allerdings wohl nicht laut genug, daß ihn sonst noch jemand im Raum gehört hatte. Niemand sonst sah ihn an. Er hätte so gern Rand von den Wölfen erzählt. Ich habe über dich Bescheid gewußt. Es ist nur gerecht, wenn ich dir auch von meinem
Geheimnis erzähle. Aber Verin war dabei. Er konnte es nicht vor ihr sagen.
»Interessant«, sagte die Aes Sedai mit nachdenklichem Gesichtsausdruck. »Ich würde dieses Mädchen sehr gern kennenlernen. Wenn sie Portalsteine benützen kann... Selbst diese Bezeichnung kennen nicht viele.« Sie schüttelte sich kurz. »Na ja, ein andermal. In den Häusern Cairhiens sollte ein hochgewachsenes Mädchen unschwer zu finden sein. Aaah, da ist unser Essen.«
Perrin roch das Lammfleisch bereits, bevor Frau Tiedra eine Prozession mit Schüsseln voll Essen hereinführte. Ihm lief bei dem Fleischgeruch das Wasser im Mund zusammen. Erbsen und Kürbis, Karotten und Weißkohl oder die heißen, knusprigen Brötchen reizten ihn weniger. Ihm schmeckte Gemüse wohl durchaus noch, aber in letzter Zeit träumte er häufiger von rohem Fleisch. Es verwirrte ihn, als er sich dabei ertappte, daß er die schönen rosa Scheiben Lammfleisch, die ihm die Wirtin herunterschnitt, für zu stark durchgebraten hielt. Entschlossen packte er sich mehr Beilagen auf den Teller. Und noch mal zwei Scheiben Lammbraten.
Sie aßen schweigend; jeder konzentrierte sich auf die eigenen Gedanken. Perrin tat es weh, Mat beim Essen zuzusehen. Mats Appetit war so gesund wie immer, obwohl sein Gesicht fiebrig gerötet war, und so, wie er spachtelte, wirkte es, als esse er seine Henkersmahlzeit. Perrin sah so oft wie möglich auf seinen Teller und wünschte sich, sie hätten Emondsfeld niemals verlassen.
Nachdem die Bedienungen den Tisch abgeräumt hatten und wieder weg waren, bestand Verin darauf, daß sie zusammenblieben, bis Hurin wiederkäme. »Es könnte sein, daß er etwas weiß und wir sofort aufbrechen müssen.«
Mat nahm sein Jonglieren wieder auf, und Loial widmete sich wieder seiner Lektüre. Rand fragte die Wirtin, ob sie Bücher da hätte, und sie brachte ihm Die Reisen des Jain Fernstreicher. Das gefiel auch Perrin, mit all den Geschichten über Abenteuer beim Meervolk und Reisen in Länder jenseits der Aielwüste, dorthin, wo die Seide herkam. Aber dann stand ihm der Sinn doch nicht nach Lesen, und so holte er ein Brettspiel und baute es zwischen sich und Ingtar auf dem Tisch auf. Der Schienarer spielte verwegen und fast leichtsinnig. Perrin hatte immer defensiv gespielt, doch nun ertappte er sich dabei, wie er genauso verwegen zu spielen begann wie Ingtar. Die meisten Partien endeten unentschieden, aber er schaffte es immerhin, genauso oft wie Ingtar zu gewinnen. Am frühen Abend betrachtete ihn der Schienarer mit neuem Respekt. Dann kehrte der Schnüffler zurück.
Hurins Grinsen wirkte gleichzeitig triumphierend und verblüfft. »Ich habe sie gefunden, Lord Ingtar. Lord Rand. Ich habe sie bis zu ihrem Unterschlupf verfolgt.«
»Unterschlupf?« fragte Ingtar scharf. »Soll das heißen, daß sie sich irgendwo in der Nähe verbergen?«
»Ja, Lord Ingtar! Diejenigen, die das Horn stahlen. Ich bin ihnen geradewegs dorthin gefolgt. Überall der Gestank von Trollocs! Und trotzdem haben sie sich hingeschlichen, als ob sie es nicht wagten, sich sehen zu lassen. Kein Wunder!« Der Schnüffler holte tief Luft. »Sie sind in dem großen Herrenhaus, das Lord Barthanes gerade fertigstellen ließ.«
»Lord Barthanes!« rief Ingtar. »Aber er... er ist... er ist doch... «
»Es gibt Schattenfreunde unter den Hochgestellten wie unter den Gemeinen«, sagte Verin verbindlich. »Die Mächtigen verschrieben ihre Seele genauso oft dem Schatten wie die Armen.« Ingtar runzelte die Stirn, als gefalle ihm dieser Gedanke absolut nicht.
»Es gibt Wachen«, fuhr Hurin fort. »Wir können nicht mit zwanzig Mann hineingehen, wenn wir wieder herauskommen wollen. Hundert könnten es vielleicht schaffen, aber zwei wären besser. Das ist meine Auffassung, Lords.«
»Was ist mit dem König?« wollte Mat wissen. »Wenn Barthanes ein Schattenfreund ist, wird uns der König doch helfen!«
»Ich bin ganz sicher«, sagte Verin trocken, »daß Galldrian Riatin gegen Barthanes Damodred vorgehen würde, wenn er nur das Gerücht hörte, Barthanes sei ein Schattenfreund. Er wäre glücklich, einen solchen Vorwand zu haben. Aber ich bin auch sicher, daß Galldrian niemals mehr das Horn von Valere herausrücken würde, hätte er es einmal in Besitz. Er würde es an Feiertagen den Leuten zeigen und ihnen vormachen, wie groß und mächtig Cairhien sei, und ansonsten würde es niemand zu Gesicht bekommen.«
Perrin riß vor Schreck die Augen weit auf. »Aber das Horn von Valere muß doch an dem Ort sein, wo die Letzte Schlacht ausgetragen wird! Er kann es nicht einfach behalten!«
»Ich weiß wenig über Cairhien«, sagte Ingtar zu ihm, »aber ich habe genug über Galldrian gehört. Er würde uns zu einem Festmahl laden und uns für den Ruhm danken, den wir Cairhien eingebracht haben. Er würde uns die Taschen voll Gold stopfen und uns unendlich ehren. Und falls wir versuchten, mit dem Horn zu fliehen, würde er uns genauso selbstverständlich die geehrten Köpfe abschlagen lassen.«
Perrin fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Je mehr er über Könige erfuhr, desto weniger gefielen sie ihm.
»Was ist mit dem Dolch?« fragte Mat in beiläufigem Tonfall. »Den würde er doch wohl nicht wollen, oder?« Ingtar funkelte ihn an, und er rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. »Ich weiß, wie wichtig das Horn ist, aber ich werde nicht in der Letzten Schlacht kämpfen. Dieser Dolch dagegen... «
Verin legte ihre Hände auf die Armlehnen des Stuhls. »Galldrian soll auch ihn nicht bekommen. Was wir brauchen, ist ein Weg in Barthanes Herrenhaus hinein. Wenn wir das Horn finden können, finden wir auch eine Möglichkeit, es wieder herauszuholen. Ja, Mat, und auch den Dolch. Wenn es einmal in der Stadt bekannt ist, daß sich eine Aes Sedai hier befindet — na ja, normalerweise vermeide ich so etwas, aber wenn ich Tiedra sagen würde, ich wolle gern Barthanes neues Herrenhaus sehen, werde ich wohl innerhalb von ein oder zwei Tagen eine Einladung haben. Es sollte auch nicht zu schwierig sein, ein paar von euch mitzubringen. Was gibt es, Hurin?«