Ein schlanker, gutaussehender Mann trat an sie heran. Er hatte langes, leicht ergrautes Haar und mehrere vielfarbige Streifen zogen sich über seinen Mantel vom Kragen bis zum Saum knapp über den Knien hinunter. Für jemanden aus Cairhien war er extrem groß, kaum einen halben Kopf kleiner als Rand, und er hatte eine Art dazustehen, die ihn sogar noch größer wirken ließ. Sein Kinn war so hoch erhoben, daß er auf alle anderen hinunterzublicken schien. Seine Augen waren schwarze Kiesel. Er sah Verin mit wachsamem Blick an.
»Eure Anwesenheit ehrt mich, Aes Sedai.« Barthanes Damodreds Stimme klang tief und selbstsicher. Sein Blick erfaßte die anderen. »Ich hatte keine so erlesene Gesellschaft erwartet. Lord Ingtar. Freund Ogier.« Seine Verbeugung vor den beiden war nur wenig mehr als ein Kopfnicken. Barthanes wußte genau, wie mächtig er selbst war. »Und Ihr, mein junger Lord Rand. Ihr erregt viel Aufsehen in der Stadt und in den Häusern. Vielleicht werden wir eine Möglichkeit finden, uns heute abend ausführlicher zu unterhalten.« Sein Tonfall schien anzudeuten, daß es nicht wichtig sei, ob dieses Gespräch auch wirklich stattfinde, es sei nicht der Rede wert, doch einen Moment lang entglitt ihm ein nervöser Seitenblick auf Ingtar, Loial und Verin. »Seid willkommen.« Er ließ sich von einer hübschen Frau wegziehen, die eine reichberingte Hand in seine Spitzenmanschetten steckte, aber im Weggehen wanderte sein Blick noch einmal zu Rand herüber.
Das Raunen der Unterhaltung regte sich wieder, und der Jongleur ließ wieder seine Reifen in einer engen Schleife hochwirbeln, so daß sie fast die stuckverzierte, vierzig Spannen hohe Gipsdecke streiften. Die Akrobaten hatten ihre Vorführung gar nicht unterbrochen. Eine Frau federte aus den zusammengelegten Händen eines ihrer Landsleute hoch. Ihre eingeölte Haut glänzte im Lichtschein von hundert Lampen. Sie überschlug sich und landete auf den Füßen, aufgefangen von den Händen eines Mannes, der bereits auf den Schultern eines anderen stand. Er hob sie mit gestreckten Armen weiter empor, und sein Untermann tat das gleiche mit ihm. Sie breitete die Arme aus, als warte sie auf Applaus. Keiner der Leute aus Cairhien schien es auch nur zu bemerken.
Verin und Ingtar verschwanden in der Menge. Dem Schienarer galten einige wachsame Blicke. Manche musterten Verin mit weit aufgerissenen Augen, andere mit der besorgten Miene von Menschen, die feststellen, daß sie neben einem tollwütigen Wolf stehen. Letzteres war eher bei Männern als bei Frauen der Fall, und einige der Frauen sprachen sie sogar an.
Rand wurde klar, daß Mat und Hurin bereits in Richtung Küche verschwunden waren, wo sich alle mitgekommenen Diener versammelten und warteten, bis sie gebraucht wurden. Er hoffte, sie würden sich problemlos wegschleichen können.
Loial beugte sich herunter, damit er ihm etwas ins Ohr sagen konnte: »Rand, in der Nähe befindet sich ein Wegetor. Ich kann es fühlen.«
»Soll das heißen, daß sich hier ein Ogierhain befand?« fragte Rand leise, und Loial nickte.
»Das Stedding Tsofu wurde nie wiedergefunden, sonst hätten die Ogier, die beim Bau von Al'cair'rahienallen halfen, keinen neuen Hain benötigt, der sie an das Stedding erinnern sollte. Als ich zum erstenmal durch Cairhien kam, stand hier nur Wald, und der gehörte dem König.«
»Barthanes hat es ihm vielleicht durch irgendeine Intrige abgewonnen.« Rand sah sich nervös im Saal um. Alle unterhielten sich nach wie vor, aber eine ganze Reihe schienen ihn und den Ogier zu beobachten. Er konnte Ingtar nicht mehr sehen. Verin stand im Mittelpunkt einer Gruppe Frauen. »Ich wünschte, wir könnten zusammenbleiben.«
»Verin sagt, das sei nicht gut, Rand. Sie meint, die anderen würden dann mißtrauisch und ärgerlich, wenn wir uns von ihnen fernhielten. Wir müssen alles Mißtrauen abbauen, bis Mat und Hurin finden, was auch immer sie finden mögen.«
»Das habe ich genausogut gehört wie du, Loial. Aber ich glaube immer noch, wenn Barthanes ein Schattenfreund ist, dann weiß er, warum wir hier sind. Wenn wir uns fortschleichen, fordern wir nur einen Schlag über den Schädel heraus.«
»Verin behauptet, er werde auf keinen Fall etwas gegen uns unternehmen, solange er nicht weiß, ob er uns nicht irgendwie benützen kann. Mach doch einfach, was sie uns gesagt hat, Rand. Die Aes Sedai wissen schon, was sie tun.« Loial schritt in die Menge hinein, und bevor er zehn Schritte getan hatte, war er bereits von Lords und Ladies umringt.
Andere bewegten sich auf Rand zu, jetzt, da er allein war, aber er wandte sich in die Gegenrichtung und eilte fort. Aes Sedai wissen vielleicht, was sie tun, aber ich nicht. Mir gefällt das alles nicht. Licht, wenn ich nur sicher sein könnte, daß sie die Wahrheit sagt. Aes Sedai lügen wohl nicht, aber die Wahrheit, die sie aussprechen, ist vielleicht nicht das, was du glaubst. Er blieb immer in Bewegung, um nicht mit all den Adligen sprechen zu müssen. Es gab noch viele weitere Säle, alle voll mit Lords und Ladies, und in allen wurde irgendeine Form der Unterhaltung geboten: drei verschiedene Gaukler in ihren schillernden Umhängen, weitere Jongleure und Akrobaten, Musiker, die Flöte und Zither, Laute und Oboe spielten sowie fünf verschiedene Arten von Fiedeln, sechs unterschiedliche Arten von Hörnern, gerade oder gekrümmt oder verwunden, und zehn Größen von Trommeln — vom Tambourin bis zur Kesselpauke. Er musterte einige der Hörner etwas genauer, doch sie bestanden alle nur aus Messing.
Narr, hier werden sie das Horn von Valere wohl kaum zur Schau stellen, dachte er. Außer Barthanes plant, tote Helden als Teil seines Unterhaltungsprogrammes heraufzubeschwören. Es war sogar ein Barde da. Er trug silberverzierte Taren-Stiefel und einen gelben Mantel. Beim Herumgehen zupfte er seine Harfe, und von Zeit zu Zeit blieb er stehen und deklamierte irgend etwas in Hochgesang. Die Gaukler bedachte er mit verächtlichen Blicken, und er hielt sich nicht in den gleichen Sälen auf wie sie, aber außer der Kleidung konnte Rand kaum einen Unterschied zwischen ihnen und ihm feststellen.
Plötzlich befand sich Barthanes an Rands Seite. Sofort bot ihnen ein livrierter Diener mit einer Verbeugung ein Silbertablett dar. Barthanes nahm sich einen gläsernen Pokal mit Wein. Der Diener verbeugte sich immer noch, als er vor ihnen her rückwärts lief, und hielt Rand das Tablett hin, bis der den Kopf schüttelte. Dann verschmolz er mit der Menge.
»Ihr seid ruhelos«, sagte Barthanes und nippte an seinem Glas.
»Ich laufe gern herum.« Rand fragte sich, wie er wohl Verins Rat befolgen könne, und als er sich daran erinnerte, was sie über seine Audienz bei der Amyrlin gesagt hatte, nahm er die Haltung ›Die Katze läuft über den Hof‹ ein. Er kannte keine arrogantere Gangart. Barthanes Mundpartie spannte sich, und Rand glaubte, der Herr fände ihn vielleicht schon zu arrogant, doch er hatte nur Verins Rat, an den er sich halten konnte, und so gab er diese Haltung nicht auf. Um ihr etwas die Spitze zu nehmen, sagte er freundlich: »Das ist wirklich ein gelungenes Fest. Ihr habt viele Freunde, und ich habe noch nie so viel Unterhaltung auf einmal erlebt.«
»Viele Freunde«, stimmte Barthanes zu. »Ihr könnt Galldrian erzählen, wie viele es waren und wer. Ein paar der Namen überraschen ihn vielleicht.«
»Ich habe den König noch nicht kennengelernt, Lord Barthanes, und ich glaube auch nicht, daß ich das werde.«
»Natürlich. Ihr wart nur zufällig in diesem kleinen Nest! Ihr habt den Fortschritt der Ausgrabungen an der Statue rein zufällig überwacht! Ein großartiges Unternehmen ist das.«
»Ja.« Er mußte wieder an Verin denken. Sie hatte ihm nicht gesagt, wie man mit einem Mann reden mußte, der einen für einen Lügner hielt. So fügte er gedankenlos hinzu: »Es ist gefährlich, sich mit Dingen aus dem Zeitalter der Legenden abzugeben, wenn man nicht weiß, was man tut.«