»Wir hauen bald ab«, versicherte ihm Rand. »Mat, geht es dir gut?« Das Gesicht seines Freundes wirkte hohlwangiger, als er es zuletzt in Erinnerung hatte, hagerer sogar als in der Schenke, und seine Backenknochen standen deutlich hervor.
»Mir geht's gut«, erwiderte Mat mürrisch. »Es machte mir gewiß nichts aus, die anderen Diener zu verlassen. Diejenigen, die nicht daran glaubten, du würdest mich verhungern lassen, dachten wohl, ich sei krank, und wollten mir nicht zu nahe kommen.«
»Hast du den Dolch gefühlt?« fragte Rand.
Mat schüttelte betrübt den Kopf. »Das einzige, was ich gefühlt habe, war, daß mich jemand die meiste Zeit über beobachtet. Diese Leute sind genauso schlimm wie Blasse, was das Herumschleichen betrifft. Seng mich, ich bin vor Schreck fast aus der Haut gefahren, als mir Hurin sagte, er habe die Spur der Schattenfreunde aufgespürt. Rand, ich kann ihn überhaupt nicht spüren, und ich habe dieses verdammte Gebäude vom Dachstuhl bis zum Keller hin abgesucht.«
»Das muß nicht heißen, daß er sich nicht hier befindet, Mat. Ich habe ihn zum Horn in die Truhe gesteckt, denk daran. Vielleicht kannst du ihn deshalb nicht fühlen. Ich glaube nicht, daß Fain weiß, wie man sie öffnet, sonst hätte er sie nicht die ganze Zeit schleppen lassen, als er aus Fal Dara floh. Selbst das viele Gold ist unwichtig, wenn man es mit dem Horn von Valere vergleicht. Wenn wir das Horn finden, finden wir auch den Dolch. Du wirst ja sehen.«
»Solange ich nicht mehr so tun muß, als sei ich dein Diener«, knurrte Mat. »Solange du nicht verrückt wirst und... « Die Worte erstarben, und sein Mund verzog sich.
»Rand ist nicht verrückt, Mat«, sagte Loial. »Die Leute aus Cairhien hätten ihn niemals hier eingelassen, wenn er kein Lord wäre. Sie sind es, die spinnen.«
»Ich bin nicht wahnsinnig«, sagte Rand grob. »Noch nicht. Hurin, zeig mir diesen Garten!«
»Hier herüber, Lord Rand.«
Sie gingen durch eine niedrige Tür — Rand mußte sich ducken — in die Nacht hinaus. Loial mußte sich richtig vornüberbeugen und die Schultern einziehen, um durchzukommen. Aus den Fenstern über ihnen drang genug gelber Lichtschein, daß Rand zwischen quadratischen Blumenbeeten eine Backsteinmauer erkennen konnte. Zu beiden Seiten warfen Ställe und andere außenliegende Gebäude wuchtige Schatten. Gelegentlich drangen Fetzen von Musik aus dem Hauptgebäude, entweder von der Feier der Diener her oder aus den Sälen mit ihren Herrschaften oben.
Hurin führte sie auf Gartenwegen entlang, bis selbst der trübe Lichtschein verblaßte und sie sich ihren Weg im Mondschein suchen mußten. Ihre Stiefel knirschten leise auf den Kieseln. Büsche, die im Tageslicht vor Blüten gestrahlt hätten, drohten nun wie düstere Gestalten im Dunkel. Rand faßte nach seinem Schwert, und sein Blick schweifte andauernd hin und her. Hundert Trollocs konnten ungesehen um sie herum lauern. Er wußte, Hurin hätte die Trollocs gerochen, wenn sie wirklich da wären, aber das half auch nicht sehr. Wenn Barthanes ein Schattenfreund war, dann mußten auch zumindest einige seiner Diener und Wächter ebenfalls welche sein. Hurin konnte einen Schattenfreund nicht immer am Geruch identifizieren. Schattenfreunde, die aus der Nacht hervorsprangen, waren auch nicht viel besser als Trollocs.
»Dort, Lord Rand«, flüsterte Hurin, und er deutete nach vorn.
Vor ihnen umschloß eine Steinmauer, die nicht viel über Loials Kopf hinausragte, eine quadratische Fläche von etwa fünfzig Schritt Seitenlänge. Rand war sich der Schatten wegen nicht sicher, aber es sah danach aus, als setze sich der Garten dahinter fort. Er fragte sich, warum Barthanes mitten in seinem Garten diese Fläche ausgespart und ummauert hatte. Über der Mauer war kein Dach zu sehen. Warum gingen sie da hinein und blieben drin? Loial beugte sich herunter und brachte seinen Mund dicht an Rands Ohr: »Ich habe dir doch gesagt, daß hier einst ein Ogierhain stand. Rand, das Wegetor befindet sich innerhalb dieser Mauer. Ich kann es fühlen.«
Rand hörte, wie Mat resignierend seufzte. »Wir geben nicht auf, Mat«, sagte er. »Ich gebe nicht auf. Ich habe aber genug Verstand, um nicht noch einmal durch die Kurzen Wege gehen zu wollen.«
»Das müssen wir aber vielleicht«, sagte Rand darauf. »Geh und suche Ingtar und Verin. Zieh sie irgendwie auf die Seite — es ist mir gleich, wie du das anstellst —, und sage ihnen, daß ich glaube, Fain habe das Horn durch ein Wegetor gebracht. Laß es aber niemand anders hören. Und denke daran, daß du hinkst; man glaubt, daß du gestürzt seist.« Es schien ihm erstaunlich, wenn selbst jemand wie Fain es riskierte, die Wege zu benützen, aber es war wohl die einzig mögliche Antwort. Sie verbringen doch keine Nacht und keinen Tag da drinnen, ohne Dach über dem Kopf.
Mat verbeugte sich tief, und seine Stimme triefte vor Ironie: »Sofort, Lord Rand. Wie der Lord wünschen. Soll ich Eure Flagge tragen, Herr?« Er ging in Richtung Herrenhaus los, und sein Gemurre verklang. »Jetzt muß ich hinken. Beim nächsten Mal habe ich mir dann wohl den Hals gebrochen oder... «
»Er hat lediglich Angst wegen des Dolches, Rand«, sagte Loial.
»Ich weiß«, gab Rand zurück. Aber wie lange noch, bis er irgend jemandem erzählt, was ich bin, auch wenn er das nicht bewußt vorhat? Er konnte nicht glauben, daß ihn Mat jemals absichtlich verraten würde — zumindest soviel war von der alten Freundschaft noch übrig. »Loial, heb mich bitte hoch, damit ich über die Mauer schauen kann.«
»Rand, falls die Schattenfreunde immer noch... «
»Sind sie nicht. Heb mich hoch, Loial!«
Alle drei traten ganz nahe an die Mauer heran, und Loial machte mit den Händen einen Steigbügel für Rand. Der Ogier richtete sich anschließend trotz Rands Gewicht problemlos auf, und damit befand sich Rands Kopf gerade in der richtigen Höhe, um über den Rand der Mauer hinwegblicken zu können.
Die dünne Sichel des abnehmenden Mondes warf nur spärliches Licht auf den Garten, und der größte Teil der Innenfläche lag sowieso im Schatten, doch auf jeden Fall schien es dort drinnen weder Blumen noch Sträucher zu geben. Nur eine einsame Bank aus blassem Marmor stach ins Auge. Sie war so plaziert, daß man von ihr aus das anblicken konnte, was sich wie ein riesiger, aufrecht stehender Grabstein in der Mitte der Fläche erhob.
Rand klammerte sich an der Mauerkrone fest und zog sich hinauf. Loial zischte leise und griff nach seinem Fuß, aber er riß sich los und ließ sich auf der anderen Mauerseite hinunterfallen. Unter seinen Füßen befand sich eine kurzgeschnittene Grasdecke. Es kam ihm der flüchtige Gedanke, daß Barthanes wohl Schafe hereinließ. Er sah so angestrengt zu der Steinplatte — dem Wegetor —hinüber, daß er zusammenfuhr, als neben ihm schwere Stiefel auf dem Boden aufschlugen.
Hurin stand auf und klopfte sich den Staub von der Kleidung. »Ihr solltet vorsichtig mit solchen Manövern sein, Lord Rand. Hier könnte sich jeder versteckt halten —oder alles.« Er spähte in die Dunkelheit der ummauerten Zone hinein und faßte sich dabei unwillkürlich an den Gürtel. Doch das Kurzschwert und der Schwertbrecher waren in der Schenke zurückgeblieben. In Cairhien liefen Diener nicht bewaffnet herum. »Springt in ein Loch hinein, ohne Euch zu vergewissern, und es ist bestimmt eine Schlange darin.«
»Du würdest sie riechen«, sagte Rand.
»Vielleicht.« Der Schnüffler atmete tief ein. »Aber ich kann nur das riechen, was sie getan haben, und nicht, was sie vorhaben.«