Über Rands Kopf erklang ein Schaben, und dann ließ sich Loial langsam an der Mauer herunterrutschen. Der Ogier mußte nicht einmal die Arme ganz durchstrecken, da standen seine Stiefel bereits auf dem Boden. »Voreilig«, knurrte er. »Ihr Menschen handelt immer so voreilig und überhastet. Und nun mache ich es euch auch schon nach. Der Älteste Haman würde mich ganz schön ins Gebet nehmen und meine Mutter... « Die Dunkelheit verbarg sein Gesicht, aber Rand war sicher, daß seine Ohren dabei lebhaft zuckten. »Rand, wenn du nicht ein bißchen vorsichtiger vorgehst, dann wirst du mich noch in Schwierigkeiten bringen.«
Rand ging zum Wegetor hinüber und dann außen herum. Selbst aus der Nähe wirkte es lediglich wie eine dicke Steinplatte, die ihn ein gutes Stück überragte. Die Rückseite war glatt geschliffen und fühlte sich kühl an —er strich nur kurz mit der Hand darüber —, aber die Vorderseite hatte ein Künstler geschaffen. Ranken, Blätter und Blüten bedeckten sie, alles so fein herausgearbeitet, daß es im trüben Mondschein beinahe echt wirkte. Er tastete über den Boden davor. Das Gras war in zwei weiten Bögen weggeschabt, wie es beim Öffnen von Torflügeln geschah.
»Ist das ein Wegetor?« fragte Hurin unsicher. »Ich habe natürlich davon gehört, aber... « Er schnüffelte, wie um eine Witterung aufzunehmen. »Die Spur führt geradewegs darauf zu und endet hier, Lord Rand. Wie sollen wir ihnen jetzt folgen? Ich habe gehört, wenn man durch ein Wegetor geht, kommt man als Wahnsinniger wieder heraus, falls man überhaupt wieder herauskommt.«
»Es geht durchaus, Hurin. Ich habe es selbst schon gemacht und Loial, Mat und Perrin auch.« Rand wandte den Blick nicht von dem Gewirr der Blätter auf dem Stein. Eines war dabei, das war anders als die anderen in diesem Blattrelief; soviel wußte er: das dreiteilige Blatt des legendären Avendesora, des Lebensbaumes. Er legte die Hand darauf. »Ich wette, du kannst auch in den Kurzen Wegen ihre Spur wittern. Wir können ihnen überallhin folgen, welchen Weg sie auch immer zur Flucht benützen.« Es wäre nicht schlecht, auch sich selbst zu beweisen, daß er den Mut hatte, durch ein Wegetor zu gehen. »Ich werde es dir beweisen.« Er hörte, wie Hurin aufstöhnte. Das Blatt war genauso wie die anderen in das Relief eingearbeitet, doch es löste sich nun und er hielt es in der Hand. Loial stöhnte ebenfalls.
In diesem Augenblick wurde die Illusion lebendiger Pflanzen zur Wirklichkeit. Steinblätter schienen im leichten Wind zu flattern, Blumen erstrahlten selbst in der Dunkelheit in ihren natürlichen Farben. Unten in der Mitte des Ganzen wurde eine Trennlinie sichtbar, und die beiden Hälften der Platte schwangen langsam auseinander — eine davon auf Rand zu. Er trat zurück. Es bot sich ihm nun allerdings weder der Anblick der anderen Seite der ummauerten Zone noch das mattsilberne Leuchten, wie er es in Erinnerung hatte. Der Raum zwischen den sich öffnenden Torflügeln war von einem so dunklen Schwarz, daß es die sie umgebende Nacht heller erscheinen ließ. Diese Pechschwärze quoll zwischen den immer noch aufschwingenden Torflügeln hervor.
Rand sprang mit einem Schrei zurück und ließ in der Eile das Avendesorablatt fallen. Loial rief: »Machin Shin. Der Schwarze Wind!«
Das Rauschen des Windes übertönte alles andere. Das Gras raschelte und bewegte sich wellenförmig in Richtung der Mauer. Staub wirbelte durch die Luft. Und im Wind riefen tausend Stimmen Wahnsinniger, zehntausend, überschlugen sich und übertönten einander. Rand konnte einige davon verstehen, obwohl er sich bemühte, nicht darauf zu hören.
... so süßes Blut, so süß, das Blut zu trinken, das tropfende Blut, es tropft so rot; hübsche Augen, gute Augen, ich habe keine Augen, ich pflücke dir die Augen aus dem Kopf; zermalme deine Knochen, spalte dir die Knochen im Fleisch, sauge dein Mark aus, während du schreist; schrei, schrei, sing deine Schreie aus, sing und schrei... Und das Schlimmste von allem war ein Flüstern, das sich durch alles hindurchzog: Al'Thor. Al'Thor. Al'Thor. Rand entkam in das Nichts, das sich um ihn herum aufbaute, und diesmal störte ihn nicht einmal das lockende, kränkliche Glühen von Saidin gerade außerhalb seines Gesichtsfeldes. Die größte aller Gefahren in den Kurzen Wegen war der Schwarze Wind, der die Seelen derer raubte, die er tötete, und die zum Wahnsinn trieb, die er am Leben ließ. Doch Machin Shin war ein Teil der Wege und konnte sie nicht verlassen. Nur, daß er jetzt in die Nacht hinauswallte, und der Schwarze Wind rief ihn beim Namen.
Das Wegetor stand noch nicht ganz offen. Wenn sie das Avendesorablatt an den richtigen Fleck zurückstecken konnten... Er sah, wie Loial auf den Knien herumkroch und in der Dunkelheit über das Gras tastete.
Saidin erfüllte ihn. Es war ein Gefühl, als vibrierten seine Knochen. Er spürte den rotglühenden, eiskalten Fluß der Einen Macht, fühlte sich lebendiger als jemals sonst, fühlte den öligen Schmutz... Nein! Und lautlos schrie er sich selbst von jenseits der Leere her an: Es will dich holen! Es wird uns alle töten! Er wuchtete alles in Richtung der wallenden Schwärze, die nun schon zehn Spannen weit über das Wegetor hinausreichte. Er wußte nicht, was er dahin schleuderte oder wie, aber im Herzen jener Dunkelheit blühte ein funkelnder Lichtbrunnen auf.
Der Schwarze Wind kreischte — zehntausend wortlose Schmerzensschreie. Langsam, einen Fingerbreit nach dem anderen, wich das schwarze Wallen zurück, schrumpfte, kroch zurück durch das immer noch offenstehende Wegetor.
Ein Strom der Macht durchlief Rand. Er konnte die Verbindung mit Saidin richtig fühlen. Es war wie ein über die Ufer tretender Fluß, der sich in einem tobenden Wasserfall zwischen ihn und das Feuer im Herzen des Schwarzen Windes schob. Die Hitze in seinem Inneren wurde noch brennender, wurde so stark, daß sie Stein schmelzen und Stahl verdampfen konnte und daß die Luft durch sie entzündet wurde. Die Kälte breitete sich aus, bis der Atem in seiner Lunge gefroren und hart wie Metall erschien. Er fühlte, wie es ihn überwältigte, wie sein Leben abschmolz, als sei es das lehmige Ufer eines starken Flusses. Sein Selbst wurde langsam abgetragen.
Kann nicht aufhören! Wenn es herauskommt... Muß es töten! Ich — kann — nicht — aufhören! Verzweifelt klammerte er sich an die Reste seiner Persönlichkeit. Die Eine Macht durchtobte ihn. Er schwamm auf ihr wie ein Stück Holz in den Stromschnellen. Das Nichts begann zu schmelzen und abzufließen; die Leere dampfte vor Kälte.
Die Bewegung der Torflügel hielt inne und kehrte sich dann um.
Rand war sich auf verschwommene Art sicher, daß er nur sah, was er zu sehen wünschte.
Die Torflügel näherten sich einander und schoben dabei Machin Shin zurück, als handele es sich um eine feste Masse. Das Inferno tobte weiter in der Brust des Schwarzen Windes.
Verschwommen und mit einem entferntfragenden Blick sah Rand, wie Loial sich — immer noch auf allen vieren — von dem zuschwingenden Tor zurückzog.
Der Spalt wurde enger und verschwand. Die Blätter und Ranken verschmolzen mit dem festen Steinhintergrund und wurden zu Stein.
Rand fühlte, wie die Verbindung zwischen ihm und dem Feuer abriß und der Strom der Macht, der durch seinen Körper floß, versiegte. Einen Augenblick später, und er hätte sich darin vollständig verloren gehabt. Zitternd fiel er auf die Knie. Es befand sich immer noch in seinem Inneren: Saidin. Es durchfloß ihn nicht mehr, sondern lag still wie ein See in ihm. Er selbst war ein See, gefüllt mit der Einen Macht. Er zitterte bei diesem Gedanken. Er roch das Gras, die Erde unter sich und die Steine der Mauer. Selbst in der Dunkelheit konnte er jeden Grashalm sehen, einzeln und alle zusammen, die gesamte Menge des Grases. Er fühlte jeden noch so schwachen Luftzug an seinem Gesicht. Seine Zunge floh vor dem Geschmack der Verderbnis zu seinem Gaumen; sein Magen verkrampfte sich.