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»Auch wenn sie zur Toman-Halbinsel gehen«, sagte Ingtar, »könnten Fain oder einer der anderen Schattenfreunde das Horn schon hundertmal geblasen haben, bis wir dort ankommen. Dann streiten die Helden aus den Gräbern für den Schatten.«

»Ach, Fain hätte doch das Horn schon hundertmal blasen können, seit wir in Fal Dara aufbrachen«, erwiderte ihm Verin. »Und ich denke, das hätte er auch getan, falls er die Truhe öffnen könnte. Wir müssen uns vielmehr den Kopf darüber zerbrechen, was geschieht, wenn er jemanden findet, der sie öffnen kann. Wir müssen ihm durch die Kurzen Wege folgen.«

Perrin riß den Kopf hoch, und Mat rutschte auf seinem Stuhl umher. Loial stöhnte leise auf.

»Wenn wir auch irgendwie an Barthanes Wächtern vorbeikämen«, sagte Rand, »würden wir wahrscheinlich Machin Shin noch immer dort vorfinden. Wir können die Wege nicht benützen.«

»Wie viele von uns könnten sich schon auf Barthanes Land schleichen?« Verin schien sich mit der Aussichtslosigkeit eines solchen Unternehmens abgefunden zu haben. »Es gibt andere Wegetore. Das Stedding Tsofu liegt im Südosten nicht weit von der Stadt entfernt. Es ist ein junges Stedding, vor nur etwa sechshundert Jahren wiederentdeckt, aber zu der Zeit züchteten die Ältesten der Ogier immer noch weitere Wege. Stedding Tsofu hat bestimmt ein Wegetor. Es ist vorhanden, und wir brechen im ersten Tageslicht dorthin auf.«

Loial gab einen etwas lauteren Ton von sich, von dem Rand nicht wußte, ob er dem Wegetor oder dem Stedding galt.

Ingtar schien immer noch nicht überzeugt, aber Verin war so sicher und eindeutig in ihrer Haltung wie Schnee, der in einer Lawine abwärtstobt. »Haltet Eure Soldaten bereit zum Aufbruch, Ingtar. Schickt Hurin hin, damit er es Uno sagt, bevor der im Bett ist. Ich denke, wir sollten alle so schnell wie möglich schlafen gehen. Diese Schattenfreunde haben bereits mindestens einen Tag Vorsprung, und morgen werden wir soviel wie möglich davon aufholen müssen.« Das Gebaren der molligen Aes Sedai war derart klar und bestimmt, daß Ingtar schon auf dem Weg zur Tür war, bevor sie noch ausgesprochen hatte.

Rand ging hinter den anderen hinaus, aber an der Tür blieb er neben der Aes Sedai stehen und beobachtete erst einmal, wie Mat den durch Kerzen erleuchteten Flur hinunterschritt. »Wieso sieht er so schlecht aus?« fragte er sie. »Ich glaubte, Ihr hättet ihn soweit geheilt, so daß er wieder einigermaßen bei Kräften ist.«

Sie wartete mit ihrer Antwort, bis Mat und die anderen die Treppe hinauf verschwunden waren. »Offensichtlich war die Heilung nicht so wirkungsvoll, wie wir glaubten. Die Krankheit hat bei ihm eine interessante Wende genommen. Seine Kraft bleibt erhalten, und das wahrscheinlich bis zum Ende. Aber sein Körper verfällt. Noch ein paar Wochen vielleicht, mehr gebe ich ihm nicht. Seht Ihr, es gibt Gründe genug, um uns zu beeilen.«

»Man braucht mir nicht noch die Sporen zu geben, Aes Sedai«, sagte Rand, und dabei stieß er die Bezeichnung betont hart hervor. Mat. Das Horn. Fains Drohung. Licht, Egwene! Seng mich, mir braucht man wirklich nicht die Sporen zu geben. »Und wie steht es mit Euch, Rand al'Thor? Fühlt Ihr Euch wohl? Kämpft Ihr immer noch dagegen an, oder habt Ihr Euch dem Rad ergeben?«

»Ich reite mit Euch, um das Horn zu finden«, antwortete er. »Darüber hinaus gibt es nichts zwischen mir und irgendeiner Aes Sedai. Versteht Ihr mich? Nichts!«

Sie sagte nichts, und er ging weg, aber als er sich vor der Treppe kurz umwandte, beobachtete sie ihn immer noch. Ihre dunklen Augen blickten scharf und berechnend.

34

Das Rad webt

Das erste Licht des nahenden Morgens überzog den Himmel grau, als Thom Merrilin wieder auf dem Weg zurück zur Traube war. Sogar dort, wo sich die Schenken und Festhallen aneinanderreihten, gab es eine kurze Strecke der Ruhe, wo ganz Vortor Luft zu holen schien. Doch in seiner augenblicklichen Stimmung hätte Thom noch nicht einmal bemerkt, wenn die leere Straße in Flammen gestanden hätte.

Einige von Barthanes Gästen hatten ihn noch lange aufgehalten, nachdem die meisten bereits aufgebrochen waren, und lange, nachdem Barthanes selbst sich zu Bett begeben hatte. Er war natürlich selbst schuld daran gewesen. Er hätte nicht von der Wilden Jagd nach dem Horn abkommen und die anderen Lieder und Geschichten vortragen sollen, die er sonst in den Dörfern vortrug: ›Mara und die drei närrischen Könige‹ und Wie Susa Jain Fernstreicher zähmte‹ und die Geschichten von Anla, der Weisen Ratgeberin. Er hatte sich das als privaten Kommentar zu ihrer Dummheit nicht verkneifen können und gar nicht damit gerechnet, daß jemand zuhören und gar Interesse daran zeigen würde. Jedenfalls waren sie auf ihre Art wirklich daran interessiert gewesen. Sie hatten mehr davon hören wollen, aber an den falschen Stellen und über die falschen Dinge gelacht. Sie hatten auch ihn ausgelacht und offensichtlich geglaubt, er werde es nicht bemerken oder aber ein voller Geldbeutel in der Tasche werde alle Wunden heilen. Er hatte ihn aber schon zweimal beinahe weggeworfen.

Der schwere Geldbeutel, der ihm in der Tasche und auf der Seele lastete, war nicht der einzige Grund für seine schlechte Laune, genausowenig wie die Verachtung des Adels. Sie hatten ihn über Rand ausgefragt und glaubten, einem bloßen Gaukler gegenüber noch nicht einmal sehr feinfühlig vorgehen zu müssen. Warum Rand sich in Cairhien befinde? Warum hatte ein Lord aus Andor ihn, einen Gaukler, auf die Seite gezogen, um mit ihm zu sprechen? Zu viele Fragen. Er war sich nicht sicher, ob seine Antworten klug gewesen waren. Seine Reaktionen in bezug auf das Große Spiel waren ein wenig rostig geworden.

Bevor er seine Schritte der Traube zuwandte, war er zum Großen Baum gegangen. Es war nicht schwer herauszufinden, wo sich jemand in Cairhien aufhielt, falls man Silber in ein oder zwei Hände drückte. Er war sich immer noch nicht sicher, was er eigentlich hatte sagen wollen. Rand war weg, und mit ihm seine Freunde und die Aes Sedai. Zurückgeblieben war ein Gefühl, als habe er eine Aufgabe noch nicht erfüllt. Der Junge ist jetzt selbständig. Seng mich, ich habe nichts mehr damit zu tun! Er schritt durch den Schankraum, der nun so leer war, wie selten zuvor, und nahm immer zwei Treppenstufen auf einmal. Zumindest versuchte er das, doch sein rechtes Bein war ziemlich steif, und so stürzte er beinahe. Er knurrte ärgerlich in sich hinein und ging den Rest der Treppe vorsichtiger hinauf. Er öffnete leise die Tür zu seinem Zimmer, damit er Dena nicht weckte.

Unwillkürlich lächelte er, als er sah, daß sie voll angezogen mit dem Gesicht zur Wand auf dem Bett lag. Sie ist eingeschlafen, während sie auf mich wartete. Verrücktes Mädchen. Es waren freundliche Gedanken; er glaubte nicht, daß sie irgend etwas tun könne, das er ihr nicht vergab oder wofür er kein Verständnis aufbrachte. Er entschloß sich spontan, daß heute abend der Tag gekommen sei, an dem er sie zum erstenmal auftreten ließ. So stellte er den Kasten mit der Harfe auf den Boden und legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zu wecken und ihr die freudige Mitteilung zu machen.

Sie rollte schlaff auf den Rücken und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Quer über ihre Kehle verlief eine klaffende Wunde. Die vorher von ihrem Körper verdeckte Bettseite war dunkel und feucht.

Thom drehte sich der Magen um. Wäre seine Kehle nicht so wie zugeschnürt gewesen, er hätte sich übergeben oder geschrien oder beides auf einmal.

Nur das Knarren des Kleiderschranks warnte ihn. Er wirbelte herum. Messer glitten aus seinen Ärmeln und mit einer gleichzeitigen Bewegung warf er sie. Die erste Klinge bohrte sich in die Kehle eines fetten, fast glatzköpfigen Mannes, der einen Dolch in der Hand trug. Der Mann taumelte nach hinten, und Blut quoll zwischen den seinen Hals umklammernden Fingern heraus, als er zu schreien versuchte.