Der Offizier bedeutete zweien seiner Männer, nachzusehen, was sich unter der Decke verbarg. Ihr überraschtes Ächzen ob des Gewichts, als sie die Ladung aus dem Packsattel hoben, wich einem Nach-Luft-Schnappen, als sie die Decke entfernten. Der Offizier blickte mit ausdruckslosem Gesicht die mit Silber verzierte Goldtruhe an, die auf den Pflastersteinen stand, und dann sah er Fain wieder an. »Ein Geschenk, das selbst der Kaiserin würdig wäre. Ihr kommt mit mir.«
Einer der Soldaten durchsuchte Fain grob, aber er ertrug das schweigend und bemerkte dabei noch, daß der Offizier und die beiden Soldaten, die die Truhe aufhoben, ihre Schwerter und Dolche ablieferten, bevor sie hineingingen. Alles, was er über diese Leute in Erfahrung bringen konnte, ob wichtig oder unbedeutend, könnte einmal hilfreich sein, obwohl er am Gelingen seines Planes keinen Zweifel hegte. Er besaß ein großes Selbstvertrauen, aber dort war es am größten, wo Lords das Messer eines Attentäters aus den eigenen Reihen fürchteten.
Als sie das Tor durchschritten, sah ihn der Offizier mit finsterem Erstaunen an. Einen Augenblick lang fragte sich Fain, warum. Ach, natürlich. Diese Kreaturen neben dem Tor. Was sie auch waren, sie waren sicher nicht schlimmer als Trollocs und gar nichts, verglichen mit einem Myrddraal, und er hatte sie nicht weiter beachtet. Jetzt war es zu spät, um noch Furcht vor ihnen zu heucheln. Aber der Offizier sagte nichts, führte ihn lediglich weiter in das Haus hinein.
Und so lag Fain schließlich auf dem Bauch, das Gesicht nach unten, in einem unmöblierten Zimmer, in dem nur hölzerne Stellwände die wirklichen Wände hinter sich verbargen, während der Offizier dem Hochlord Turak von ihm und seiner Gabe erzählte. Diener trugen einen Tisch herein, auf den man die Truhe stellte, damit der Hochlord sich nicht bücken mußte. Alles, was Fain von ihnen sah, waren flink hin und her eilende Pantoffeln. Ungeduldig wartete er. Schließlich würde einmal der Zeitpunkt kommen, an dem nicht er es mehr war, der sich verbeugen mußte.
Dann wurden die Soldaten weggeschickt, und man sagte Fain, er solle sich erheben. Er tat das langsam und musterte derweil sowohl den Hochlord mit seinem glattrasierten Kopf, den langen Fingernägeln und der blauen, mit Blumen gesäumten Seidenrobe, wie auch den Mann, der neben ihm stand und auf der unrasierten Seite seines Kopfes das Haar zu einem langen Zopf geflochten hatte. Fain war sicher, daß der Kerl in Grün nur ein Diener war, wenn auch vielleicht hoch im Rang, aber Diener konnten nützlich sein, besonders wenn sie hoch in der Gunst ihres Herren standen.
»Ein wundervolles Geschenk.« Turaks Blick hob sich von der Truhe und erfaßte Fain. Ein Duft nach Rosen wehte von dem Hochlord herüber. »Doch die Frage liegt auf der Hand: Wie kommt jemand wie Ihr an eine Truhe, die viele weniger hochstehende Adlige sich niemals leisten könnten? Seid Ihr ein Dieb?«
Fain zupfte an seinem abgetragenen und nicht gerade sauberen Mantel. »Es ist manchmal notwendig, Hochlord, daß ein Mann weniger erscheint, als er ist. Mein augenblickliches schäbiges Aussehen ermöglichte mir, Euch dies unbehelligt zu überbringen. Die Truhe ist alt, Hochlord — so alt, wie das Zeitalter der Legenden her ist —und in ihr liegt ein Schatz, den nur wenige Augen jemals erblickt haben. Bald — sehr bald, Hochlord — werde ich fähig sein, sie zu öffnen und Euch das zu übergeben, was Euch ermöglichen wird, dieses Land zu erobern, soweit Ihr nur wollt, bis zum Rückgrat der Welt, zur Aielwüste, zu den Ländern dahinter. Nichts wird sich Euch in den Weg stellen, Hochlord, sobald ich... « Er brach ab, als Turak mit seinen langen Fingernägeln über die Truhe strich.
»Ich habe solche Truhen schon gesehen, Truhen aus dem Zeitalter der Legenden«, sagte der Hochlord, »allerdings noch keine so prächtige. Man hat sie so konstruiert, daß nur der sie öffnen kann, der das Muster kennt, aber ich — ah!« Er drückte an den Schnörkeln und Knöpfen herum, man hörte ein scharfes Klicken, und er hob den Deckel hoch. Ein Aufflackern von — vielleicht war es Enttäuschung — huschte über sein Gesicht.
Fain biß sich in die Wangen, daß das Blut herausquoll, damit er nicht vor Wut fauchte. Es verschlechterte seine Lage bei der zu erwartenden Feilscherei erheblich, daß nicht er es gewesen war, der die Truhe öffnete. Trotzdem konnte alles andere so ablaufen, wie er es geplant hatte, wenn er sich nur zur Geduld zwang. Aber er hatte schon so lange geduldig sein müssen.
»Das soll ein Schatz aus dem Zeitalter der Legenden sein?« fragte Turak, und er hob das gekrümmte Horn mit der einen und den geschweiften Dolch mit dem Rubin im Griff mit der anderen Hand heraus. Fain ballte die Hände zu Fäusten, damit er nicht nach dem Dolch griff. »Das Zeitalter der Legenden«, wiederholte Turak leise, und er fuhr die silbern eingelegte Schrift um die goldene Öffnung des Horns herum mit der Spitze des Dolches nach. Seine Augenbrauen hoben sich erstaunt. Das war das erste Mal, daß Fain eine Regung in seinem Gesicht erkennen konnte. Aber im nächsten Moment war Turaks Gesicht so ausdruckslos wie vorher. »Habt Ihr eine Ahnung, was das ist?«
»Das Horn von Valere, Hochlord«, sagte Fain aalglatt, und es bereitete ihm Vergnügen zu beobachten, wie der Mann mit dem Zopf mit offenem Mund dastand. Turak nickte nur in sich hinein.
Der Hochlord wandte sich ab. Fain blinzelte und öffnete den Mund, aber nach einer gebieterischen Geste des gelbhaarigen Mannes folgte er den beiden wortlos.
Sie betraten ein weiteres Zimmer, aus dem man das gesamte Mobiliar entfernt und durch Stellwände ersetzt hatte. Es gab nur einen einzigen Stuhl, der vor einer hohen, geschwungenen Kommode stand. Turak, der immer noch Dolch und Horn trug, sah die Kommode an und blickte dann wieder weg. Er sagte kein Wort, aber der andere Seanchan bellte kurz einige Befehle, und Augenblicke später erschienen Männer in einfachen Wollgewändern aus einer Tür hinter den Stellwänden und trugen einen kleinen Tisch herein. Eine junge Frau mit so blassem Haar, daß es beinahe weiß erschien, kam hinterher. Sie trug beide Arme voll mit kleinen Untersetzern in allen möglichen Formen und Größen, alle aus lackiertem Holz. Ihr Kleid war aus weißer Seide und so dünn, daß Fain ihren Körper ganz deutlich sehen konnte, aber er hatte nur Augen für den Dolch. Das Horn war ein Mittel zum Zweck, doch der Dolch war ein Teil seiner selbst.
Turak berührte kurz einen der hölzernen Untersetzer, die das Mädchen trug, und sie stellte ihn in die Mitte der Tischfläche. Nach den Anweisungen des Mannes mit dem Zopf drehten die anderen Männer den Stuhl so, daß er auf den Tisch hin zeigte. Das Haar dieser niedrigeren Diener reichte bis auf die Schultern. Sie hasteten hinaus, wobei sie sich so tief verbeugten, daß ihre Gesichter beinahe die Knie berührten.
Turak stellte das Horn senkrecht auf den Untersetzer, und den Dolch gleich davor. Dann setzte er sich auf den Stuhl.
Fain konnte es nicht mehr ertragen. Er griff nach dem Dolch.
Der gelbhaarige Mann packte sein Handgelenk mit mörderisch festem Griff. »Unrasierter Hund! Wißt, daß die Hand, die ungebeten das Eigentum des Hochlords berührt, abgehackt wird.«
»Er gehört mir«, murrte Fain. Geduld! So lange schon...
Turak lehnte sich entspannt zurück und hob einen blaulackierten Fingernagel. Fain wurde zurückgerissen, damit der Hochlord ungestört das Horn betrachten konnte.
»Euch?« fragte Turak. »In einer Truhe, die Ihr nicht öffnen konntet? Falls Ihr mein Interesse in genügendem Maße weckt, gebe ich Euch vielleicht den Dolch. Auch wenn er aus dem Zeitalter der Legenden stammt, habe ich an so etwas kein Interesse. Aber vor allem anderen werdet Ihr mir eine Frage beantworten: Warum habt Ihr mir das Horn von Valere gebracht?«