Nur wenige der männlichen Ogier waren größer als Loial, aber es war leicht, die älteren Männer zu erkennen: Allesamt hatten sie Schnurrbärte, die auf beiden Seiten genauso lang waren wie die herunterhängenden Augenbrauen und sie trugen dazu noch Spitzbärte. Alle jüngeren Männer waren wie Loial glattrasiert. Viele Männer liefen in Hemdsärmeln umher und trugen Schaufeln und Hacken oder Sägen und Eimer voll Pech. Die anderen trugen einfache hochgeschlossene Mäntel, die über Kniehöhe herausstanden wie ein Kilt. Die Frauen schienen aufgestickte Blumen zu bevorzugen, und viele trugen auch Blumen im Haar. Allerdings sah man die bestickten Mäntel nur bei jungen Frauen, während bei den älteren auch die Kleider so verziert waren. Ein paar grauhaarige Frauen trugen Kleider, die vom Hals bis zum Rocksaum mit Blumen und Ranken bestickt waren. Eine Handvoll der Ogier — meist Frauen und Mädchen — schenkten Loial besondere Aufmerksamkeit. Er lief stur geradeaus, doch je weiter sie kamen, desto lebhafter zuckten seine Ohren.
Rand schreckte auf, als er einen Ogier anscheinend direkt aus dem Boden auftauchen sah. Er kam aus einer dieser mit Gras und Wildblumen bewachsenen Erhebungen heraus, die überall zwischen den Bäumen zu sehen waren. Dann bemerkte er Fenster in diesen Erhebungen, und an einem davon stand eine Ogierfrau, die offensichtlich gerade Teig ausrollte. Erst jetzt wurde ihm klar, daß er Ogierhäuser vor sich hatte. Die Fenster waren aus blankem Stein herausgehauen, aber sie wirkten ganz natürlich, als seien sie generationenlang durch Wind und Wasser geformt worden.
Die Großen Bäume mit ihren mächtigen Stämmen und Wurzeln, so dick wie Pferde, brauchten einen ziemlichen Abstand zueinander, um sich nicht gegenseitig Licht und Luft zu nehmen. Trotzdem wuchsen gleich mehrere davon in dieser Ogierstadt. Aus Erde aufgeschüttete Rampen führten über die Wurzeln. Von den Wegen abgesehen ließ nur ein Merkmal darauf schließen, daß man sich hier in einer Stadt befand und nicht mehr bloß im Wald: In der Mitte des Ortes befand sich eine weite Lichtung um den Stumpf eines der großen Bäume herum. Dieser Stumpf hatte einen Durchmesser von beinahe hundert Schritt. Seine Oberfläche war glatt wie ein Tanzboden, und an mehreren Stellen führten Stufen hinauf. Rand stellte sich vor, wie hoch dieser Baum gewesen sein mußte. Dann sagte Erith so laut, daß alle es verstehen konnten: »Da sind unsere anderen Gäste.«
Drei menschliche Frauen kamen um den riesigen Baumstumpf herum auf sie zu. Die jüngste von ihnen trug eine Holzschüssel.
»Aiel«, sagte Ingtar. »Töchter des Speers. Gut, daß ich Masema mit den anderen zurückgelassen habe.« Doch er trat ein Stück von Erith und Verin weg und griff über die Schulter nach hinten, um das Schwert in der Scheide zu lockern.
Rand musterte die Aiel nervös, aber neugierig. Sie waren, was viele Leute ihm zugeschrieben hatten. Zwei der Frauen waren erwachsen, die dritte kaum mehr als ein Mädchen. Aber alle drei waren ziemlich groß für eine Frau. Der Farbton ihrer Haare war unterschiedlich — von Rotbraun bis Blond —, und sie trugen die Haare kurz geschnitten mit einem dünnen, schulterlangen Pferdeschwanz hinten. Ihre weiten Hosen hatten sie in weiche Stiefelschäfte geschoben, und ihre Kleidung war entweder braun oder grau oder grün, auf jeden Fall so, meinte Rand, daß sie sich von Felsen oder Bäumen kaum mehr abhob als der Umhang eines Behüters. Über ihre Schultern standen die Spitzen kurzer Bogen hervor. An ihren Gürteln hingen Köcher und lange Messer und jede trug einen kleinen, runden Lederschild und ein Bündel Wurfspeere mit kurzen Schäften und langen Spitzen. Selbst die jüngste unter ihnen bewegte sich mit einer Geschmeidigkeit, die darauf hindeutete, daß sie mit ihren Waffen gut umgehen konnte.
Mit einem Mal entdeckten die Frauen die anderen Menschen. Die Tatsache, daß sie überrascht wurden, schien sie wohl am meisten zu beeindrucken, aber sie bewegten sich blitzschnell. Die jüngste rief: »Schienarer!« und drehte sich um, damit sie die Schüssel vorsichtig hinter sich abstellen konnte. Die anderen beiden nahmen schnell braune Tücher von ihren Schultern und wickelten sie sich statt dessen um die Köpfe. Die älteren Frauen zogen dann schwarze Schleier über ihre Gesichter, die alles bis auf die Augen verbargen, während die jüngste sich aufrichtete, um es ihnen anschließend gleichzutun. Geduckt näherten sie sich ihnen mit kurzen, gleichmäßigen Schritten, die Schilde und die Speerbündel vor sich haltend. Jede hielt einen Speer wurfbereit in der freien Hand.
Ingtar zog sein Schwert. »Haltet Abstand! Aes Sedai. Ihr auch, Erith.« Hurin schnappte sich den Schwertbrecher und konnte sich nicht entschließen, was er in die andere Hand nehmen sollte: Keule oder Schwert. Nach einem Blick auf die Speere der Aiel wählte er schließlich das Schwert.
»Das dürft Ihr nicht!« protestierte das Ogiermädchen. Sie rang die Hände und wandte sich erst Ingtar zu, dann den Aiel und dann wieder Ingtar. »Tut das nicht!«
Rand wurde erst jetzt klar, daß er das Reiherschwert in der Hand hielt. Perrin hatte seine Axt halb aus der Gürtelschlaufe gezogen, zögerte aber und schüttelte den Kopf.
»Seid ihr zwei verrückt geworden?« wollte Mat wissen. Sein Bogen hing nach wie vor auf seinem Rücken. »Es ist mir gleich, ob es Aiel sind — aber es sind Frauen!«
»Hört auf!« Verin griff in das Geschehen ein. »Hört sofort mit diesem Unsinn auf!« Die Aiel kamen der Aufforderung nicht nach, und die Aes Sedai ballte wütend die Fäuste.
Mat schob sich nach hinten weg und stellte einen Fuß in den Steigbügel. »Ich verlasse euch«, verkündete er. »Hört ihr mich? Ich bleibe nicht solange, daß sie mich mit diesen Dingern aufspießen können, und ich werde nicht auf eine Frau schießen!«
»Der Pakt!« schrie Loial. »Denkt an den Pakt!« Das zeitigte auch nicht mehr Wirkung als Verins und Eriths wiederholte Aufforderungen.
Rand bemerkte, daß sich sowohl die Aes Sedai als auch das Ogiermädchen aus der Schußlinie der Aiel heraushielten. Er fragte sich, ob Mats Einfall der richtige gewesen war. Er war sich nicht sicher, ob er einer Frau weh tun konnte, auch wenn sie versuchte, ihn zu töten. Den Ausschlag gab aber schließlich die Feststellung, daß sich die Aiel nur noch etwa dreißig Schritt vor ihm befanden und er wohl kaum noch die Zeit hatte, den Braunen zu erreichen und aufzusteigen. Er vermutete, daß diese kurzen Speere durchaus über dreißig Schritt hinweg ihr Ziel treffen konnten. Als sich die Frauen immer noch geduckt und kampfbereit weiter näherten, machte er sich bald keine Gedanken mehr darüber, ihnen nicht weh zu tun, sondern eher, wie er sie davon abhalten konnte, ihm weh zu tun.
Nervös suchte er nach dem Nichts und fand es schnell. Außerhalb driftete der entfernte Gedanke, daß es tatsächlich nur das Nichts war. Das Glühen von Saidar fehlte. Die Leere war leerer als je zuvor, größer, wie ein Hunger, der gewaltig genug war, ihn zu verzehren. Ein Hunger nach mehr; da mußte doch noch etwas anderes kommen.
Plötzlich trat ein Ogier mit bebendem Spitzbart zwischen die beiden Gruppen. »Was hat das zu bedeuten? Legt die Waffen beiseite!« rief er betroffen. »Ihr« — sein Blick erfaßte Ingtar und Hurin, Rand und Perrin und trotz seiner leeren Hände auch Mat — »habt ja noch eine Entschuldigung, aber ihr —« und damit trat er auf die Aielfrauen zu, die ihren Vormarsch beendet hatten, »habt ihr etwa den Pakt vergessen?«
Die Frauen zogen so hastig die Schleier und Tücher von Gesichtern und Köpfen, daß man glauben konnte, sie wollten vergessen machen, wie sie diese vorher bedeckt hatten. Das Gesicht des Mädchens glühte, und die anderen Frauen blickten zerknirscht drein. Eine der beiden älteren Frauen, die mit dem rötlichen Haar, sagte: »Vergebt uns, Baumbruder. Wir würdigen den Pakt, und wir hätten auch nicht blankgezogen, befänden wir uns nicht im Lande der Baumtöter, wo sich jede Hand gegen uns erhebt, und wenn wir nicht bewaffnete Männer gesehen hätten.« Rand sah, daß ihre Augen genauso grau waren wie seine.