Hurin bestaunte sie ganz offen, und auch Rand hatte das Gefühl, sie anstarren zu müssen. Nicht einmal Verin war die Weisheit so deutlich anzusehen wie den riesigen Augen dieser Ältesten, und Morgase wäre ihnen an Autorität trotz ihrer Krone unterlegen gewesen, genau wie Moiraine ihrer Ruhe und Ausgeglichenheit nichts entgegenzusetzen gehabt hätte. Ingtar verbeugte sich als erster, und zwar so feierlich, wie es Rand bei ihm noch nicht erlebt hatte, während die anderen noch wie angewurzelt dastanden.
Als sie schließlich dann doch neben Verin bereitstanden, stellte sich die Ogierfrau auf dem höchsten Stuhl vor: »Ich heiße Alar, Älteste der Ältesten des Steddings Tsofu. Verin hat uns gesagt, daß Ihr das Wegetor bei uns benützen müßt. Schattenfreunden das Horn von Valere abzujagen ist freilich eine wichtige Aufgabe, aber wir haben mehr als hundert Jahre lang niemandem mehr gestattet, die Kurzen Wege zu betreten. Weder wir noch die Ältesten eines anderen Steddings.«
»Ich werde das Horn aufspüren«, sagte Ingtar trotzig. »Ich muß. Falls Ihr uns nicht gestattet, das Wegetor zu benützen... « Er schwieg, als Verin ihn anblickte, doch der Trotz stand weiterhin auf seinem Gesicht geschrieben.
Alar lächelte. »Seid nicht so voreilig, Schienarer. Ihr Menschen nehmt Euch nie die Zeit zum Nachdenken. Nur Beschlüsse, die man in Ruhe fällt, treffen den Kern einer Sache.« Ihr Lächeln verflog, und sie blickte ernst drein. Ihre Stimme klang genauso ruhig und getragen wie vorher. »Man kann den Gefahren in den Kurzen Wegen nicht mit dem Schwert in der Hand gegenübertreten, so wie man sich gegen angreifende Aiel oder wütende Trollocs zur Wehr setzen würde. Ich muß Euch darauf aufmerksam machen, daß Ihr mit dem Betreten der Wege nicht nur Tod und Wahnsinn riskiert, sondern vielleicht sogar Eure Seelen aufs Spiel setzt.«
»Wir haben Machin Shin bereits erlebt«, sagte Rand, und Mat und Perrin stimmten ihm zu. Sie brachten es allerdings nicht fertig, so zu wirken, als seien sie erpicht auf eine neue Begegnung.
»Ich werde dem Horn auch bis zum Shayol Ghul selbst folgen, wenn es sein muß«, sagte Ingtar entschlossen. Hurin nickte nur, als fühle er sich in Ingtars Schwur mit eingeschlossen.
»Bringt Trayal«, befahl Alar, und Juin, der an der Tür stehengeblieben war, verbeugte sich und ging. »Es ist nicht genug, nur zu hören, was geschehen kann«, sagte sie zu Verin. »Ihr müßt es sehen und im Innersten fühlen.«
Es herrschte nervöses Schweigen, bis Juin zurückkehrte, und die Nervosität stieg noch, als hinter ihm zwei Ogierfrauen hereinkamen, die einen Ogiermann mittleren Alters mit dunklem Bart hereinführten. Er schlurfte zwischen ihnen einher, als wisse er nicht genau, wie seine Beine zu bewegen seien. Sein Gesicht war schlaff und absolut ausdruckslos und seine großen Augen wirkten leer. Sie blickten durch alles hindurch und schienen nichts wahrzunehmen. Eine der Frauen wischte ihm sanft Speichel aus dem Mundwinkel. Sie nahmen ihn bei den Armen, damit er stehenblieb. Sein Fuß bewegte sich noch vorwärts, zögerte und fiel dann deutlich hörbar auf den Boden. Er schien es genauso zufrieden zu sein, einfach nur dazustehen, wie zu gehen. Zumindest war es ihm gleichgültig.
»Trayal war einer der letzten von uns, die durch das Wegetor gingen«, sagte Alar leise. »Er kam so zurück, wie Ihr ihn hier seht. Berührt Ihr ihn einmal, Verin?«
Verin sah sie lange an, dann stand sie auf und ging zu Trayal hinüber. Er rührte sich nicht, als sie ihm die Hände auf die breite Brust legte. Nicht einmal ein Blick von ihm zeigte, daß er ihre Berührung überhaupt bemerkte. Mit einem Zischen zuckte sie zurück, blickte zu ihm auf und wirbelte herum. Sie sah die Ältesten an. »Er ist... leer. Sein Körper lebt, doch in ihm ist nichts. Gar nichts.« Alle Ältesten blickten unendlich traurig drein.
»Nichts«, sagte eine der Ältesten zu Alars Rechten leise. Aus ihren Augen sprach all der Schmerz, den Trayal nicht mehr empfinden konnte. »Kein Verstand. Keine Seele. Es blieb nichts von Trayal als sein Körper.«
»Er war ein guter Baumsänger«, seufzte einer der Männer.
Alar gab ein Handzeichen, und die beiden Frauen drehten Trayal um. Sie mußten ihn erst wieder in Bewegung setzen, damit er zur Tür ging.
»Wir kennen die Risiken«, sagte Verin. »Aber wie gefährlich es auch immer sein mag — wir müssen dem Horn von Valere folgen.«
Die Älteste nickte. »Das Horn von Valere. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: daß es sich in der Hand von Schattenfreunden befindet oder daß es überhaupt aufgetaucht ist.« Sie blickte die Reihe der Ältesten an, und alle nickten zustimmend, auch wenn einer der Männer zuerst zweifelnd an seinem Bart zupfte. »Also gut. Verin sagte mir, daß die Zeit drängt. Ich werde Euch selbst zum Wegetor begleiten.« Rand fühlte sich teils erleichtert, teils fürchtete er sich auch, da fügte sie hinzu: »Ihr habt einen jungen Ogier dabei. Loial, Sohn des Arent, Sohn des Halan, aus dem Stedding Schangtai. Er ist weit weg von seiner Heimat.«
»Wir brauchen ihn«, sagte Rand schnell. Er sprach langsamer, als ihn die Ältesten und Verin erstaunt ansahen, aber trotzig fuhr er fort: »Wir brauchen ihn bei uns, und er will auch bei uns bleiben.«
»Loial ist unser Freund«, sagte Perrin, und zur gleichen Zeit erklärte Mat: »Er ist uns nicht im Weg, und er sorgt schon für sich selbst.« Die beiden fühlten sich unter der plötzlichen Aufmerksamkeit der Ältesten sichtlich unwohl, aber sie machten keinen Rückzieher.
»Gibt es einen Grund, warum er nicht mit uns kommen kann?« fragte Ingtar. »Wie Mat schon sagte, hält er sich gut. Ich weiß nicht, wozu wir ihn brauchen, aber wenn er mitkommen will, warum... «
»Wir brauchen ihn«, unterbrach ihn Verin in verbindlichem Tonfall. »Nur noch wenige kennen die Kurzen Wege, aber Loial hat sich lange mit ihnen beschäftigt. Er kann auch die Wegweiser entziffern.«
Alar sah einen nach dem anderen an. Dann kehrte ihr Blick zu Rand zurück. Lange musterte sie ihn. Sie wirkte, als wisse sie über alles Bescheid. Auch die anderen erweckten diesen Eindruck, jedoch nicht in demselben Maße. »Verin sagt, Ihr seid Ta'veren«, sagte sie schließlich, »und ich spüre das auch in Euch. Die Tatsache, daß sogar ich das spüren kann, bedeutet, daß Ihr bis zu einem hohen Grad Ta'veren seid, denn wenn überhaupt, dann ist dieses Talent in uns nur sehr schwach ausgeprägt. Habt Ihr Loial, den Sohn des Arent, Sohn des Halan, in das Ta'maral'ailen hineingezogen — in das Gewebe, das vom Großen Muster um Euch gewebt wird?«
»Ich... ich will nur das Horn finden und... « Rand beendete den Satz nicht. Alar hatte nichts von Mats Dolch erwähnt. Er wußte nicht, ob Verin den Ältesten etwas davon erzählt oder aus irgendeinem Grund geschwiegen hatte. »Er ist mein Freund, Älteste.«
»So, Euer Freund«, sagte Alar. »Nach unserer Anschauung ist er noch sehr jung. Auch Ihr seid jung, doch Ihr seid auch Ta'veren. Ihr werdet auf ihn aufpassen, und wenn das Weben beendet ist, dann sorgt Ihr dafür, daß er sicher wieder ins Stedding Schangtai zurückkehrt.«
»Das werde ich«, bestätigte er. Er hatte ein Gefühl, als werde ihm damit eine wichtige Aufgabe auferlegt, als leiste er einen Eid.
»Dann gehen wir also zum Wegetor.«
Draußen stand Loial hastig auf, als sie im Schlepptau von Alar und Verin erschienen. Ingtar schickte Hurin im Laufschritt los, damit er Uno und die anderen Soldaten holte. Loial sah die Älteste mißtrauisch an und reihte sich dann neben Rand ganz hinten in die Prozession ein. Die Ogierfrauen, die ihn vorher beobachtet hatten, waren verschwunden. »Haben die Ältesten etwas von mir erwähnt? Hat sie...?« Er betrachtete Alars breiten Rücken, während sie Juin bat, ihre Pferde bringen zu lassen. Sie ging mit Verin weiter, obwohl Juin gerade noch dienerte, und beugte sich zu der Aes Sedai hinunter, um leise mit ihr zu flüstern.