Verin stand gedankenverloren da und starrte vor sich hin. Mat saß auf der Umrandung, den Kopf in beide Hände gestützt, und Perrin betrachtete ihn besorgt. Loial schien erleichtert darüber, daß sie das Wegetor nicht benützen konnten, und gleichzeitig schämte er sich offensichtlich dieser Erleichterung.
»Wir können hier nichts mehr tun«, stellte Ingtar fest. »Verin Sedai, ich bin Euch wider besseres Wissen hierher gefolgt, aber das kann ich nun nicht länger. Ich werde nach Cairhien zurückkehren. Barthanes kann mir sagen, wohin die Schattenfreunde gingen. Irgendwie werde ich ihn dazu zwingen.«
»Fain ging zur Toman-Halbinsel«, sagte Rand, der Diskussionen müde. »Und wo er sich aufhält, da befinden sich auch das Horn und der Dolch.«
»Ich denke... « Perrin zuckte zögernd die Achseln. »Ich denke, wir könnten es mit einem anderen Wegetor versuchen. In einem anderen Stedding?«
Loial strich sich über das Kinn und sprach dann schnell, als wolle er seine Erleichterung über das Fehlschlagen hier gutmachen: »Stedding Cantoine liegt gleich hinter dem Iralellfluß, und Stedding Taijing liegt östlich vom Rückgrat der Welt. Aber das Wegetor von Caemlyn, wo einst der Hain lag, ist näher, und am nächsten überhaupt liegt das Tor im Hain von Tar Valon.«
»Welches Wegetor wir auch zu benützen versuchen«, sagte Verin abwesend, »ich fürchte, wir werden dort Machin Shin vorfinden.« Alar sah sie fragend an, aber die Aes Sedai sagte nichts weiter. Sie murmelte wohl etwas in sich hinein, schüttelte aber gleich den Kopf, als trage sie einen inneren Konflikt aus.
»Was wir brauchen«, sagte Hurin, »ist einer dieser Portalsteine.« Er sah Alar an und dann Verin, und da keine von beiden ihm Einhalt gebot, fuhr er mit gesteigertem Selbstbewußtsein fort: »Lady Selene sagte, die alten Aes Sedai hätten diese Welten erforscht und dabei gelernt, wie man die Kurzen Wege macht. Und diese... Welt, in der wir uns befanden... na ja, wir haben dadurch zwei Tage weniger gebraucht, um dreihundert Meilen zurückzulegen. Wenn wir einen Portalstein benützen könnten, um wieder auf diese Welt zu gelangen, oder auf eine ähnliche, dann würden wir nicht mehr als ein oder zwei Wochen brauchen, um das Arythmeer zu erreichen, und könnten dann von dort aus zur TomanHalbinsel kommen. Das geht vielleicht nicht so schnell wie durch die Kurzen Wege, aber es ist immer noch viel schneller, als einfach nach Westen zu reiten. Was meint Ihr, Lord Ingtar? Lord Rand?«
Verin antwortete ihm. »Was Ihr da vorschlagt, mag durchaus möglich sein, Schnüffler, aber wir könnten genausogut darauf hoffen, dieses Wegetor noch einmal zu öffnen und herauszufinden, daß Machin Shin wieder verschwunden ist, wie ausgerechnet jetzt einen Portalstein zu finden. Ich kenne keinen, der näher läge als die Aielwüste. Obwohl wir natürlich zu Brudermörders Dolch zurückkehren könnten, falls Ihr, Rand, oder Loial glaubt, Ihr könntet den Portalstein wiederfinden.«
Rand blickte Mat an. Sein Freund hatte hoffnungsvoll den Kopf gehoben, als er das von diesen Steinen vernommen hatte. Ein paar Wochen, hatte Verin gesagt. Falls sie einfach nach Westen ritten, würde Mat ihre Ankunft auf der Toman-Halbinsel nicht mehr erleben.
»Ich kann ihn schon finden«, sagte Rand zögernd. Er schämte sich. Mat wird sterben, die Schattenfreunde haben das Horn von Valere, Fain wird etwas mit Emondsfeld anstellen, wenn du ihm nicht folgst, und du hast Angst, die Eine Macht zu benützen. Einmal hin und zurück. Das wird dich auch noch nicht in den Wahnsinn treiben. Was ihm aber wirklich Angst einjagte, war der Eifer, den er im Inneren empfand, wenn er daran dachte, die Macht wieder zu benützen, oder an das Gefühl, das die Macht in ihm auslöste. Sich wieder wirklich lebendig zu fühlen...
»Ich verstehe das nicht«, sagte Alar bedächtig. »Die Portalsteine sind doch seit dem Zeitalter der Legenden nicht mehr benützt worden. Ich hatte nicht gedacht, daß es noch jemanden gibt, der weiß, wie man sie benützt.«
»Die Braunen Ajah wissen eine ganze Menge«, sagte Verin trocken, »und ich weiß, wie man die Steine benützen kann.«
Die Älteste nickte. »Es gibt in der Weißen Burg wirklich Dinge, von denen wir nur träumen können. Aber wenn Ihr einen Portalstein benützen könnt, müßt Ihr nicht erst zu Brudermörders Dolch reiten. Es gibt einen Stein gleich hier in der Nähe.«
»Das Rad webt, wie das Rad es wünscht, und das Große Muster schafft, was notwendig ist.« Verin wirkte auf einmal überhaupt nicht mehr abwesend. »Bringt uns hin«, sagte sie kurz. »Wir haben schon mehr als genug Zeit verloren.«
37
Scheinwelt
Alar führte sie mit würdigverhaltenen Schritten vom Wegetor fort. Juin allerdings schien froh darüber zu sein. Mats Blick war nur nach vorn gerichtet, und Hurin schritt voller Vertrauen nebenher. Loial allerdings machte einen besorgten Eindruck. Er fürchtete wohl, Alar könne ihre Ansicht ändern und ihn doch nicht mitgehen lassen. Rand beeilte sich nicht. Er zog den Braunen an den Zügeln hinter sich her. Sein Zögern rührte daher, daß er nicht glaubte, Verin wolle selbst das Portal öffnen.
Die graue Steinsäule stand aufrecht neben einer beinahe hundert Fuß hohen und vier Fuß starken Buche. Rand hätte sie wohl für einen wirklich großen Baum gehalten —bevor er die Großen Bäume gesehen hatte. Hier gab es keine Vorwarnung durch eine Umrandung wie bei dem Wegetor; nur ein paar Blumen schoben ihre Köpfchen durch den von Blättern übersäten Humus des Waldbodens. Der Portalstein war verwittert, doch die Schriftzeichen darauf waren immer noch eindeutig zu entziffern.
Die berittenen schienarischen Soldaten schwärmten im Kreis um den Stein und die zu Fuß Einherschreitenden aus. »Wir haben ihn aufgestellt«, sagte Alar, »als wir ihn vor vielen Jahren fanden. Doch wir haben ihn nicht von seinem ursprünglichen Standort entfernt. Er... schien sich... einem Transport zu... widersetzen.« Sie ging zu dem Stein hin und legte eine große Hand darauf. »Ich habe ihn immer als Symbol des Verlorengegangenen betrachtet, des Vergessenen. Im Zeitalter der Legenden hätte man ihn untersucht und auch ein wenig davon verstanden. Für uns ist es nur ein Stein.«
»Ich hoffe, er ist mehr als nur das.« Verins Stimme klang nun energischer. »Älteste, ich danke Euch für Eure Hilfe. Vergebt uns die unhöflich kurz angebundene Weise, auf die wir Euch verlassen müssen, aber das Rad wartet nicht auf irgendeine Frau. Wenigstens werden wir nun den Frieden in Eurem Stedding nicht mehr stören.«
»Wir haben wohl die Steinwerker aus Cairhien zurückgeholt«, sagte Alar, »doch wir hören immer noch, was draußen in der Welt geschieht. Falsche Drachen. Die Wilde Jagd nach dem Horn. Wir vernehmen es, und es geht an uns vorbei. Ich glaube jedoch nicht, daß uns Tarmon Gai'don unberührt lassen oder gar an uns vorbeigehen wird. Lebt nun wohl, Verin Aes Sedai. Lebt wohl, Ihr alle, und mögt Ihr Zuflucht in der Hand des Schöpfers finden. Juin.« Sie sah Loial kurz an und warf Rand einen mahnenden Blick zu, und dann waren die Ogier unter den Bäumen verschwunden.
Mark hörte das Knarren der Sättel, als sich die Soldaten unruhig bewegten. Ingtar blickte sich in ihrem Kreis um. »Ist dies denn notwendig, Verin Sedai? Selbst wenn es möglich ist... Wir wissen noch nicht einmal, ob die Schattenfreunde wirklich das Horn zur Toman-Halbinsel mitgenommen haben. Ich glaube immer noch, daß ich Barthanes dazu bringen... «
»Wenn wir das nicht mit letzter Sicherheit wissen«, unterbrach ihn Verin in sanftem Tonfall, »dann ist die Toman-Halbinsel ein genauso gutes Ziel wie jedes andere. Mehr als einmal habe ich gehört, wie Ihr sagtet, des Hornes wegen würdet Ihr sogar zum Shayol Ghul selbst reiten. Schreckt Ihr nun davor zurück?« Sie deutete auf den Stein unter der mächtigen Buche.
Ingtar versteifte sich entrüstet. »Ich schrecke vor nichts zurück. Bringt uns zur Toman-Halbinsel oder auch zum Shayol Ghul. Falls am Ende das Horn von Valere auf uns wartet, werde ich Euch folgen.«