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»Wo sind wir hier?« wollte er wissen. Die Wälder des Steddings Tsofu waren verschwunden und von einer Ebene abgelöst worden. Unweit von ihnen, im Westen, gab es Wälder und ein paar Hügel. Als sie sich im Stedding um den Stein versammelt hatten, hatte die Sonne hoch am Himmel gestanden, doch hier stand sie tief an einem grauen Nachmittagshimmel. Die wenigen Bäume in ihrer Nähe waren kahl oder wiesen gerade noch ein paar leuchtend bunte Blätter auf. Ein kalter Wind wehte böig vom Osten her und wirbelte Blätter vom Boden auf.

»Auf der Toman-Halbinsel«, sagte Verin. »Das ist der Stein, den ich schon einmal besuchte. Ihr hättet nicht versuchen sollen, uns direkt hierher zu bringen. Ich weiß nicht, was schief gegangen ist; das werde ich wohl auch nie erfahren, aber den Bäumen nach zu schließen würde ich sagen, daß es bereits Herbst ist. Rand, wir haben keine Zeit gewonnen, sondern verloren. Ich denke, wir haben bestimmt vier Monate gebraucht, um hierher zu gelangen.«

»Aber ich habe nicht... «

»Ihr müßt Euch in solchen Fragen von mir beraten lassen. Es ist wahr, ich kann Euch nicht unterrichten, aber vielleicht kann ich Euch wenigstens davon abhalten, Euch selbst umzubringen — und dazu noch uns andere —, indem Ihr zuviel der Macht auf einmal anwendet. Und selbst wenn Ihr Euch nicht umbringt, der Wiedergeborene Drache jedoch ausbrennt wie eine heruntergebrannte Kerze, na, wer wird dann dem Dunklen König gegenüberstehen?« Sie wartete nicht darauf, daß er protestierte, sondern ging statt dessen zu Ingtar hinüber.

Der Schienarer fuhr zusammen, als sie seinen Arm berührte. Er sah sie mit Verzweiflung im Blick an. »Ich wandle im Licht«, sagte er heiser. »Ich werde das Horn von Valere finden und die Macht von Shayol Ghul stürzen. Das werde ich!«

»Sicher werdet Ihr das«, sagte sie in beruhigendem Ton. Sie nahm sein Gesicht in die Hände, und er atmete schwer auf. Offensichtlich erholte er sich nun von dem, was ihn gelähmt hatte. Nur die Erinnerung daran lag immer noch in seinem Blick. »So«, sagte sie. »Das wird für Euch genügen. Ich muß sehen, wie ich den anderen helfe. Wir können das Horn noch immer zurückgewinnen, aber der Weg dahin ist nicht einfacher geworden.«

Während sie sich um die anderen kümmerte und bei jedem kurz innehielt, ging Rand zu seinen Freunden. Als er versuchte, Mat aufzurichten, zuckte dieser und starrte ihn an. Dann packte er Rands Mantel mit beiden Händen. »Rand, ich würde niemals jemandem davon erzählen —von dir, meine ich. Ich würde dich nicht verraten. Das mußt du mir glauben!« Er sah schlechter aus als je zuvor, aber Rand schrieb das vor allem seiner offensichtlichen Furcht zu.

»Das glaube ich ja auch«, sagte Rand. Er fragte sich, welche Leben Mat gelebt und was er dabei getan hatte. Er muß es jemandem gesagt haben, sonst hätte er jetzt nicht soviel Angst. Er konnte es ihm nicht übelnehmen. Das waren andere Mats gewesen und nicht er selber. Außerdem, wenn er nach einigen der Alternativen ging, die er selbst erlebt hatte... »Ich glaube dir. Perrin?«

Der Jüngling mit dem lockigen Haar ließ mit einem Seufzer die Hände sinken. Rote Stellen an Stirn und Wangen zeigten, wo sich seine Fingernägel in die Haut gebohrt hatten. Seine gelben Augen verschleierten seine Gedanken. »Wir haben wirklich fast keine Wahl, Rand, stimmt's? Was auch geschieht, was wir auch tun, manche Dinge bleiben doch immer gleich.« Er atmete langgezogen aus. »Wo sind wir? Ist das eine der Welten, von denen ihr gesprochen habt, Hurin und du?«

»Wir sind auf der Toman-Halbinsel«, teilte ihm Rand mit. »Auf unserer Welt. Das behauptet jedenfalls Verin. Und es ist Herbst.«

Mat sah bekümmert aus. »Wie konnten... ? Nein, ich will gar nicht wissen, wie das geschah. Aber wie sollen wir nun Fain und den Dolch finden? Nach so langer Zeit kann er doch überall sein.«

»Er ist hier«, versicherte ihm Rand. Er konnte nur hoffen, recht zu behalten. Fain hatte Zeit gehabt, sich zu jedem beliebigen Ort hin einzuschiffen. Zeit genug, um nach Emondsfeld zu reiten. Oder nach Tar Valon. Bitte, Licht, laß ihn nicht des Wartens müde geworden sein. Falls er Egwene etwas angetan hat oder jemandem in Emondsfeld, dann werde ich... Licht noch mal, ich habe mich doch bemüht, zur rechten Zeit anzukommen. »Die größeren Städte der Toman-Halbinsel befinden sich alle westlich von hier«, verkündete Verin so laut, daß alle es hören konnten. Alle waren wieder auf den Beinen, bis auf Rand und seine beiden Freunde. Sie kam her und legte Mat die Hände auf. Dabei sagte sie: »Nicht, daß es hier viele Dörfer gibt, die groß genug sind, um sich Stadt zu nennen. Aber wenn wir irgendeine Spur der Schattenfreunde finden wollen, müssen wir mit der Suche im Westen beginnen. Und ich glaube, wir sollten kein weiteres Tageslicht verschwenden, indem wir hier herumsitzen.«

Als Mat dann blinzelte und aufstand — er wirkte wohl noch krank, seine Bewegungen waren aber energisch —, legte sie Perrin die Hände auf. Rand wich zurück, als sie anschließend nach ihm faßte.

»Seid kein Narr«, schalt sie ihn.

»Ich wünsche Eure Hilfe nicht«, sagte er ruhig. »Oder die Hilfe irgendeiner Aes Sedai.«

Ihre Lippen verzogen sich. »Wie Ihr wünscht.«

Sie saßen nun sofort auf und ritten nach Westen. Der Portalstein blieb hinter ihnen zurück. Keiner protestierte; am allerwenigsten Rand. Licht, laß es nicht zu spät sein!

38

Schulung

Egwene saß mit übergeschlagenen Beinen in ihrem weißen Kleid auf dem Bett und ließ drei winzige Lichtkugeln über ihren Händen tanzen. Sie sollte so etwas eigentlich nicht tun, ohne daß wenigstens eine der Aufgenommenen zugegen war, aber schließlich trug Nynaeve, die wütend vor dem kleinen Kamin hin und her marschierte, den Schlangenring, den man den Aufgenommenen verlieh, und am Saum ihres weißen Kleids befanden sich die entsprechenden Farbkreise. Natürlich — ausbilden durfte sie trotzdem noch niemanden. Egwene hatte während dieser vergangenen dreizehn Wochen feststellen müssen, daß sie einfach nicht widerstehen konnte. Sie wußte ja, wie einfach es nun war, Saidar zu berühren. Sie fühlte es ständig, wie es auf sie wartete und sie wie der Duft eines Parfums oder das Gefühl von Seide an ihren Fingerspitzen anzog, lockte. Und wenn sie es einmal berührte, konnte sie sich kaum noch zurückhalten. Sie mußte die Macht lenken oder es zumindest versuchen. Das gelang ihr genauso oft, wie es eben nicht ging, doch auch dies spornte sie wiederum an.

Oft ängstigte es sie aber auch. Es jagte ihr Angst ein, wie oft sie die Macht zu verwenden suchte und wie ausgebrannt und trübselig sie sich fühlte, wenn sie den Strom der Macht nicht in sich spürte. Sie hätte am liebsten alles auf einmal in sich aufgenommen, trotz der Warnung, es könne sie ausbrennen, und diese Lust an der Macht erschreckte sie am meisten. Manchmal wünschte sie sich, sie wäre nie nach Tar Valon gekommen. Aber die Angst hielt sie nicht lange auf, genausowenig wie die Furcht, von einer Aes Sedai oder einer anderen Aufgenommenen als Nynaeve dabei erwischt zu werden.

Aber hier in ihrem eigenen Zimmer fühlte sie sich sicher genug. Min war auch da und saß auf dem dreibeinigen Hocker. Sie beobachtete Egwene, aber die kannte Min so gut, daß sie gewiß war, von ihr nicht verraten zu werden. Sie schätzte sich glücklich, seit ihrer Ankunft in Tar Valon zwei gute Freundinnen gewonnen zu haben.

Es war ein kleines, fensterloses Zimmer, wie alle Räume bei den Novizinnen. Nynaeve durchquerte es mit drei kurzen Schritten von einer weißgekalkten Wand zur anderen. Nynaeves eigenes Zimmer war viel größer, aber da sie unter den anderen Aufgenommenen keine Freundinnen gefunden hatte, kam sie in Egwenes Zimmer, wenn sie jemanden zum Reden brauchte — sogar jetzt, obwohl sie kein Wort sagte. Das kleine Feuer in dem engen Kamin hielt die erste Kühle des sich ankündigenden Herbstes im Schach. Egwene war allerdings sicher, daß er im Winter kaum ausreichen würde. Ein kleiner Arbeitstisch war praktisch das einzige richtige Möbelstück im Zimmer. Ihre Habseligkeiten hingen ordentlich an einer Reihe von Haken an der Wand oder lagen auf dem kurzen Regal über dem Tisch. Novizinnen beschäftigte man für gewöhnlich derart, daß sie kaum Zeit in ihren Zimmern verbringen konnten, aber heute hatten sie frei; erst das dritte Mal, seit sie und Nynaeve zur Weißen Burg gekommen waren.