»Else hat heute Galad schöne Augen gemacht, als er mit den Behütern übte«, sagte Min und schaukelte auf zwei Beinen ihres Hockers.
Die kleinen Kugeln flackerten einen Augenblick über Egwenes Händen. »Sie kann anschauen, wen sie will«, sagte Egwene leichthin. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum mich das interessieren sollte.«
»Es läßt dich vermutlich völlig kalt. Er sieht schon wahnsinnig gut aus, wenn man ihm seine steifen Umgangsformen nachsieht. Da kann man schon mal hinsehen, besonders, wenn er kein Hemd anhat.«
Die Kugeln wirbelten erregt durch die Luft. »Ich habe gewiß keine Lust, Galad anzusehen, ob mit oder ohne Hemd.«
»Ich sollte dich nicht aufziehen«, sagte Min zerknirscht. »Tut mir leid. Aber du siehst ihn wohl ziemlich gern —verzieh dein Gesicht nicht so —, genau wie beinahe jede andere Frau in der Weißen Burg außer den Roten. Ich habe gesehen, wie Aes Sedai hinunter auf das Übungsgelände schielten, wenn er mit dem Schwert Paraden einübte; vor allem Grüne. Sie behaupten, sie schauen sich nur nach ihren Behütern um, aber wenn Galad nicht da ist, stehen erheblich weniger herum. Selbst die Köchinnen und Mägde kommen heraus, um ihn zu beobachten.«
Die Kugeln blieben mit einem Mal in der Luft stehen, und Egwene sah sie einen Augenblick lang konzentriert an. Sie verschwanden. Plötzlich kicherte sie. »Er sieht aber auch wirklich gut aus, findest du nicht? Selbst beim Laufen wirkt es, als ob er tanze.« Das Rot ihrer Wangen wurde noch dunkler. »Ich weiß, daß ich ihn nicht so anstarren sollte, aber ich kann mir nicht helfen.«
»Ich auch nicht«, sagte Min, »und ich kann schließlich sehen, wie er wirklich ist.«
»Aber wenn er gut ist...?«
»Egwene, Galad ist zum Haareausraufen gut. Er würde jederzeit jemandem weh tun, wenn er damit einem höheren Zweck dient. Er würde nicht einmal bemerken, wen er verletzt hat, weil er sich nur auf diesen höheren Zweck konzentriert, aber wenn, dann würde er erwarten, daß man ihn versteht und seine Handlungen billigt.«
»Na, du wirst es wohl wissen«, sagte Egwene. Sie hatte Mins Fähigkeit, andere Menschen nur anzusehen und alle möglichen Sachen über sie zu wissen, bereits erlebt. Min erzählte nicht alles, was sie gesehen hatte, und sie sah auch nicht immer etwas, aber es war häufig genug vorgekommen, um Egwene zu überzeugen. Sie blickte zu Nynaeve hinüber. Die tigerte immer noch im Zimmer herum und führte Selbstgespräche. Dann griff sie wieder nach Saidar und nahm ihr Jonglieren wieder auf, wenn auch offensichtlich unkonzentriert.
Min zuckte die Achseln. »Ich denke, ich kann es dir durchaus sagen. Er hat noch nicht einmal bemerkt, daß Else zusah. Er fragte sie, ob wie wisse, ob du nach dem Abendessen vielleicht in den Südgarten kommst, da heute ja ein freier Tag war. Ich habe sie bedauert.«
»Arme Else«, murmelte Egwene, und die Lichtkugeln über ihren Händen tanzten noch lebhafter. Min lachte.
Die Tür schlug vom Wind getrieben auf. Egwene quiekte und ließ die Kugeln verschwinden, bevor sie sah, daß es nur Elayne war.
Die goldenhaarige Tochter-Erbin von Andor schob die Tür zu und hängte ihren Umhang an einen Haken. »Ich habe es gerade erfahren«, sagte sie: »Die Gerüchte stimmen. König Galldrian ist tot. Dann wird es einen Krieg um seine Nachfolge geben.«
Min schnaubte. »Bürgerkrieg. Krieg um die Nachfolge. Dumme Bezeichnungen für die gleiche Sache. Hast du was dagegen, wenn wir nicht darüber sprechen? Wir hören doch nichts anderes. Krieg in Cairhien. Krieg auf der Toman-Halbinsel. Sie haben vielleicht in Saldaea den falschen Drachen geschnappt, aber in Tear herrscht immer noch Krieg. Das meiste sind sowieso nur Gerüchte. Gestern hörte ich, wie eine der Köchinnen behauptete, sie habe gehört, daß Artur Falkenflügel auf Tanchico zu marschiere. Artur Falkenflügel!«
»Ich dachte, du wolltest nicht darüber reden«, sagte Egwene.
»Ich sah Logain«, warf Elayne ein. »Er saß auf einer Bank im Innenhof und weinte. Er rannte weg, als er mich sah. Ich kann mir nicht helfen, er tut mir einfach leid.«
»Besser, er weint, als wir anderen alle, Elayne«, sagte Min.
»Ich weiß, was er ist«, meinte Elayne ruhig. »Oder genauer, was er war. Er ist es nicht mehr, und ich kann ihn nun durchaus bedauern.«
Egwene ließ sich gegen die Wand sacken. Rand. Logain erinnerte sie immer an Rand. Sie hatte nun einige Monate keinen Traum mehr von ihm gehabt, jedenfalls nicht die Art von Träumen wie damals auf der Flußkönigin. Anaiya ließ sie immer noch all ihre Träume aufschreiben, und die Aes Sedai überprüfte sie auf Hinweise oder Verbindungen zu irgendwelchen Ereignissen, aber es war nichts von Rand dabei außer ein paar Träumen, die Anaiyas Meinung nach nur aussagten, daß sie ihn vermisse. Seltsamerweise hatte sie ein Gefühl, als gebe es ihn nicht mehr, als habe er zu existieren aufgehört, genau wie ihre Träume, und zwar ein paar Wochen, nachdem sie die Weiße Burg erreicht hatten. Und ich sitze da und denke darüber nach, wie elegant Galad läuft, dachte sie bitter. Rand muß es einfach gutgehen. Falls man ihn gefangen und einer Dämpfung unterzogen hätte, dann hätte ich doch etwas davon gehört. Das jagte ihr einen kalten Schauder über den Rücken — wie immer, wenn ihr dieser Gedanke kam: eine Dämpfung bei Rand, Rand, wie er weinte und sterben wollte, so wie Logain...
Elayne setzte sich neben sie aufs Bett und zog die Beine an, so daß sie auf ihren Füßen hockte. »Falls du in Galad verknallt bist, Egwene, wirst du für mich keine Sympathie empfinden. Ich werde dich von Nynaeve mit einem dieser schrecklichen Kräutertees, von denen sie immer erzählt, betäuben lassen.« Sie zog die Augenbrauen in Richtung Nynaeve hoch. Die hatte noch nicht einmal von ihrem Eintreten Notiz genommen. »Was ist mit ihr los? Sagt ja nicht, sie sei jetzt auch noch hinter Galad her!«
»Wir lassen sie besser in Ruhe.« Min beugte sich zu den beiden hinüber und senkte die Stimme. »Diese magere Aufgenommene Irella hat ihr gesagt, sie sei eine unbeholfene Kuh und habe nur halb soviel Talent wie sie, und da hat ihr Nynaeve eins aufs Ohr gegeben.« Elayne zog den Kopf ein. »Genau«, murmelte Min. »Sie schleppten sie im Handumdrehen in Sheriams Büro, und seither kann man nichts mehr mit ihr anfangen.«
Offensichtlich hatte Min nicht leise genug gesprochen, denn von Nynaeve her erklang ein Grollen. Plötzlich schlug die Tür ein zweites Mal auf, und ein Sturmwind fuhr in das Zimmer. Er bewegte die Decken auf Egwenes Bett nicht im geringsten, doch Min und der Hocker kippten und purzelten an die Wand hinüber. Sofort erstarb der Wind wieder, und Nynaeve stand mit verlegenem Gesicht da.
Egwene eilte zur Tür und spähte hinaus. Die Mittagssonne ließ die letzten Überreste der gestrigen Regengüsse verdunsten. Der immer noch feuchte Balkon, der sich um den Innenhof der Novizinnenquartiere zog, war leer, und alle Türen in der langen Reihe waren geschlossen. Die Novizinnen, die den freien Tag in den Gartenanlagen verbracht hatten, holten nun zweifellos den versäumten Schlaf nach. Sie konnten nicht beobachtet worden sein. Sie schloß die Tür und nahm ihren Platz neben Elayne ein. Nynaeve half Min wieder auf die Beine.
»Tut mir leid, Min«, sagte Nynaeve mit gepreßter Stimme. »Manchmal geht mein Temperament... Ich kann nicht erwarten, daß du mir verzeihst, nach dem, was ich angerichtet habe.« Sie holte tief Luft. »Wenn du mich Sheriam melden willst, verstehe ich dich durchaus. Ich hab es verdient.«