Egwene wäre es lieber gewesen, sie hätte dieses Eingeständnis nicht gehört. Nynaeve konnte später wegen solcher Dinge ganz schön giftig werden. Sie suchte nach etwas, worauf sie sich konzentrieren konnte, damit Nynaeve glaubte, sie habe gar nicht hingehört. Unwillkürlich berührte sie erneut Saidar und fing wieder an, mit den Lichtkugeln zu jonglieren. Elayne machte schnell mit. Egwene bemerkte, wie sich das Glühen um die Tochter-Erbin herum aufbaute, noch bevor drei winzige Kugeln über ihren Handflächen erschienen. Sie warfen die kleinen, glühenden Bälle einander zu und ließen sie immer kompliziertere Figuren umeinander herum beschreiben. Manchmal erlosch einer davon, wenn eines der Mädchen es nicht rechtzeitig schaffte, ihn bei der Annäherung zu übernehmen, doch dann flammte er wieder mit leicht veränderter Farbe oder Größe auf.
Die Eine Macht erfüllte Egwene mit Leben. Sie roch den schwachen Rosenduft von Elaynes Seife, die sie beim morgendlichen Bad benutzt hatte. Sie konnte den rauhen Verputz der Wände fühlen, die glattgetretenen Steinplatten des Fußbodens, und zwar genauso deutlich wie das Bett, auf dem sie saß. Sie hörte Min und Nynaeve atmen und verstand ihre leisen Worte.
»Wenn es ums Vergeben geht«, sagte Min, »dann solltest du vielleicht eher mir verzeihen. Du hast dein Temperament, und ich bin ein Großmaul. Ich vergebe dir, wenn du mir vergibst.« Unter Entschuldigungen, die sogar ernst klangen, umarmten sich die beiden Frauen. »Aber wenn du das noch mal machst«, lachte Min, »werde ich dir eins aufs Ohr geben.«
»Das nächste Mal werfe ich etwas nach dir«, antwortete Nynaeve. Auch sie lachte dabei, doch ihr Lachen brach unvermittelt ab, als ihr Blick auf Egwene und Elayne fiel. »Ihr hört sofort damit auf, oder jemand wird tatsächlich zur Rektorin gehen! Zwei Jemands!«
»Nynaeve, das würdest du doch nicht machen!« protestierte Egwene. Als sie aber Nynaeves Blick bemerkte, unterbrach sie geschwind ihren Kontakt zu Saidar. »Schon gut, ich glaube dir ja. Du mußt es mir nicht beweisen.«
»Wir müssen üben«, sagte Elayne. »Sie verlangen immer mehr von uns. Wenn wir nicht noch für uns allein übten, würden wir nicht mehr mitkommen.« Ihr Gesicht wirkte ruhig und gesammelt, aber sie hatte genauso eilig wie Egwene Saidar fahren lassen.
»Und was geschieht, wenn ihr zuviel der Macht an euch zieht und keiner da ist, der euch aufhalten kann?« fragte Nynaeve. »Ich wünschte, ihr hättet ein bißchen mehr Angst. Ich habe Angst. Glaubt ihr vielleicht, ich wüßte nicht, wie ihr euch fühlt? Sie ist immer da, und ihr möchtet euch vollsaugen damit. Manchmal kann ich mich auch kaum zurückhalten; ich will alles auf einmal. Ich weiß, daß ich verbrennen würde, und trotzdem will ich es tun.« Sie schauderte. »Ich wünschte wirklich, ihr hättet etwas mehr Angst davor.«
»Ich fürchte mich schon«, sagte Egwene seufzend. »Ich habe sogar schreckliche Angst. Aber das hilft überhaupt nicht. Wie ist es bei dir, Elayne?«
»Das einzige, wovor ich mich fürchte«, meinte Elayne schnippisch, »ist Geschirrspülen. Mir scheint, ich muß jeden Tag abspülen.« Egwene warf ihr Kissen nach Elayne. Elayne fing es vor ihrem Kopf ab und warf es zurück. Dann ließ sie jedoch die Schultern hängen. »Ach, ja, stimmt schon. Ich habe solche Angst, daß ich nicht weiß, warum meine Zähne nicht die ganze Zeit klappern. Elaida hat mir gesagt, ich würde mich derart ängstigen, daß ich am liebsten mit dem Fahrenden Volk wegrennen wollte, aber damals habe ich das nicht verstanden. Ein Mann, der einen Ochsen so antreibt wie man uns antreibt, wäre überall deswegen verschrien. Ich bin die ganze Zeit über müde. Ich wache müde auf und gehe erschöpft schlafen. Manchmal habe ich solche Angst davor, ich könnte mehr Macht an mich reißen und lenken, als ich beherrsche, daß ich... « Sie blickte auf ihren Schoß herab und beendete den Satz nicht.
Egwene wußte, was sie unausgesprochen gelassen hatte. Ihre Zimmer lagen direkt nebeneinander, und wie in vielen dieser Novizinnenzimmer hatten irgendwelche Vorbewohnerinnen vor langer Zeit schon ein kleines Loch durch die Zwischenwand gebohrt. Es war zu klein, um bemerkt zu werden, wenn man nicht gerade genau wußte, wo es sich befand, aber sehr nützlich, wenn man sich nach dem Löschen der Lampen noch unterhalten wollte. Zu der Zeit durften die Mädchen ihre Zimmer nicht mehr verlassen. Egwene hatte mehr als einmal gehört, wie Elayne sich in den Schlaf geweint hatte, und sie bezweifelte nicht, daß Elayne ihr eigenes Weinen gehört hatte.
»Die Idee mit dem Fahrenden Volk ist verlockend«, stimmte Nynaeve zu, »aber wohin du auch immer gehst, es ändert nichts an deinen Fähigkeiten. Vor Saidar kannst du nicht wegrennen.« Es klang nicht so, als gefiele ihr das, was sie gesagt hatte.
»Was siehst du, Min?« fragte Elayne. »Werden wir alle mächtige Aes Sedai oder müssen wir den Rest unseres Lebens damit verbringen, als Novizinnen Geschirr abzuspülen, oder werden wir... « Sie zuckte unangenehm berührt die Achseln, als wolle sie die dritte Alternative, die ihr eingefallen war, lieber nicht aussprechen. Heimgeschickt. Aus der Burg geworfen. Seit Egwene angekommen war, hatte man bereits zwei Novizinnen weggeschickt, und jede sprach von ihnen nur im Flüsterton, als seien sie tot.
Min rutschte auf ihrem Hocker umher. »Ich lese nicht gern Freundinnen die Zukunft«, knurrte sie. »Die Freundschaft ist dabei meist im Weg. Ich versuche dann, aus allem nur das Beste herauszulesen. Deshalb tue ich das nicht mehr für euch. Außerdem hat sich bei euch auch nichts geändert, seit... « Sie blinzelte sie an, und plötzlich runzelte sie die Stirn. »Das ist neu«, hauchte sie.
»Was?« fragte Nynaeve in scharfem Ton.
Min zögerte, bevor sie antwortete: »Gefahr. Ihr befindet euch alle in irgendeiner Gefahr. Oder ihr werdet euch sehr bald in einer Gefahr befinden. Ich kann nichts Genaues erkennen, aber die Gefahr ist deutlich sichtbar.«
»Seht ihr?« sagte Nynaeve zu den beiden Mädchen, die auf dem Bett saßen. »Ihr müßt vorsichtig sein. Wir alle müssen uns in acht nehmen. Ihr müßt mir beide versprechen, daß ihr nicht mehr allein die Macht benützt, ohne jemanden, der euch anleitet.«
»Ich will gar nicht mehr darüber sprechen«, sagte Egwene.
Elayne nickte eifrig. »Ja. Sprechen wir über etwas anderes. Min, wenn du ein Kleid anziehst, möchte ich darauf wetten, daß Gawyn dich bittet, mit ihm spazierenzugehen. Du weißt ja, daß er dir schöne Augen macht, aber ich glaube, die Hosen und der Männermantel schrecken ihn ab.«
»Ich ziehe mich so an, wie es mir paßt, und das ändere ich auch nicht für einen Lord, selbst wenn er dein Bruder ist.« Min sagte das beinahe abwesend. Sie sah sie immer noch schief an und hatte die Stirn gerunzelt. Dieses Thema hatten sie schon ein paar Mal angeschnitten. »Manchmal ist es nützlich, für einen Jungen gehalten zu werden.«
»Keiner, der dich zweimal ansieht, glaubt dir, daß du ein Junge bist.« Elayne lächelte.
Egwene war nervös. Elayne brachte eine gezwungene Fröhlichkeit in die Unterhaltung, doch Min achtete kaum darauf, und Nynaeve wirkte, als wolle sie die anderen erneut warnen.
Als sich die Tür wieder öffnete, schoß Egwene sofort hoch, um sie zu schließen. Sie war für jede Tätigkeit dankbar, die sie von ihren trüben Gedanken ablenkte. Bevor sie jedoch die Tür erreichte, trat eine dunkeläugige Aes Sedai ein, deren blondes Haar zu einer Unzahl von Zöpfen geflochten war. Egwene schnappte überrascht nach Luft, nicht nur, weil es eine Aes Sedai war, sondern vor allem, da es sich ausgerechnet um Liandrin handelte. Sie hatte gar nicht gewußt, daß Liandrin in die Weiße Burg zurückgekehrt war, aber davon einmal ganz abgesehen schickte man üblicherweise nach einer Novizin, wenn eine Aes Sedai sie zu sprechen wünschte. Wenn eine der Schwestern selbst herkam, konnte dies nichts Gutes bedeuten.