Im Zimmer war es — mit fünf Frauen — jetzt ziemlich eng. Liandrin blieb stehen, rückte ihre Stola mit den roten Fransen zurecht und musterte sie. Min rührte sich nicht, doch Elayne erhob sich, und die drei, die nun standen, knicksten vor Liandrin. Nynaeve allerdings bewegte kaum das Knie dabei. Egwene glaubte nicht, daß Nynaeve sich je daran gewöhnen würde, andere im Rang über sich zu haben.
Liandrins Blick ruhte schließlich auf Nynaeve. »Und warum befindest du dich hier im Quartier der Novizinnen, Kind?« Ihre Stimme klang eisig.
»Ich besuche Freundinnen«, sagte Nynaeve mit gepreßter Stimme. Einen Augenblick später fügte sie widerwillig hinzu:
»Liandrin Sedai.«
»Die Aufgenommenen können unter den Novizinnen keine Freundinnen haben. Das solltest du mittlerweile gelernt haben, Kind. Aber es ist gut, daß ich euch hier vorfinde. Ihr beide« — ihr Finger fuhr dolchartig auf Elayne und Min zu — »werdet gehen.«
»Ich komme später wieder.« Min erhob sich gelassen und zeigte deutlich, daß sie es nicht eilig hatte. Sie schlenderte grinsend an Liandrin vorbei, die jedoch keine Notiz von ihr nahm. Elayne warf Egwene und Nynaeve einen besorgten Blick zu, bevor sie erneut knickste und ging.
Nachdem Elayne die Tür hinter sich geschlossen hatte, musterte Liandrin Egwene und Nynaeve eingehend. Egwene wurde unter ihrem Blick sichtlich nervös, doch Nynaeve hielt sich aufrecht. Nur ihre Wangen wurden ein klein wenig roter.
»Ihr beiden stammt aus dem gleichen Dorf wie die Jungen, die mit Moiraine kamen. Stimmt das?« fragte Liandrin plötzlich.
»Habt Ihr etwas von Rand erfahren?« fragte Egwene übereifrig. Liandrin zog eine Augenbraue hoch. »Verzeiht mir, Aes Sedai. Ich habe mich vergessen.«
»Habt Ihr etwas von ihnen gehört?« fragte Nynaeve beinahe fordernd. Bei den Aufgenommenen gab es keine Vorschrift, daß sie eine Aes Sedai nur ansprechen durften, wenn sie dazu aufgefordert worden waren.
»Ihr seid um sie besorgt. Das ist gut. Sie sind in Gefahr, und ihr seid vielleicht in der Lage, ihnen zu helfen.«
»Woher wißt Ihr, daß sie in Gefahr sind?« Diesmal lag eine eindeutige Forderung in Nynaeves Worten.
Liandrins Knospenmund verzog sich, doch ihre Stimme klang genauso wie vorher. »Auch wenn du dessen nicht gewahr wurdest, hat Moiraine euretwegen Briefe an die Weiße Burg gerichtet. Moiraine Sedai sorgt sich um euch und eure jungen... Freunde. Diese Jungen, sie sind in Gefahr. Wollt ihr ihnen helfen oder sie ihrem Schicksal überlassen?«
»Ja«, sagte Egwene, und gleichzeitig fragte Nynaeve: »Welche Art von Schwierigkeiten? Wieso interessiert Ihr euch dafür?« Nynaeve betrachtete die roten Fransen an Liandrins Stola. »Und ich dachte, Ihr könntet Moiraine nicht ausstehen!«
»Setze nicht zuviel voraus, Kind«, sagte Liandrin in scharfem Ton. »Aufgenommen zu sein bedeutet noch nicht, daß du das Recht hast, dich als Schwester zu fühlen. Aufgenommene wie Novizinnen haben einer Schwester zuzuhören und zu tun, was man ihnen aufträgt.« Sie atmete tief durch und fuhr dann fort. Ihre Stimme klang wieder kalt und überlegen, doch auf ihren Wangen waren weiße Flecken zu sehen, so sehr ärgerte sie sich. »Eines Tages, da bin ich sicher, werdet auch ihr einer guten Sache dienen und lernen, daß ihr dazu selbst mit denen zusammenarbeiten müßt, die ihr nicht leiden könnt. Ich sage euch: Ich habe mit vielen zusammengearbeitet, mit denen ich bestimmt kein Zimmer teilen würde, wenn es an mir läge. Würdet ihr nicht auch mit jemandem gemeinsame Sache machen, den ihr am meisten haßt, wenn es eure Freunde retten könnte?«
Nynaeve nickte zögernd. »Aber Ihr habt uns immer noch nicht gesagt, in welcher Gefahr sie sich befinden. Liandrin Sedai.«
»Die Gefahr droht von Shayol Ghul her. Sie werden gejagt, und wie ich hörte, nicht zum ersten Mal. Wenn ihr mit mir kommt, könnten wenigstens ein paar dieser Gefahren ausgeschaltet werden. Fragt mich nicht wie, denn ich kann es euch nicht sagen, aber ich sage euch ganz eindeutig, daß es so ist und nicht anders.«
»Wir kommen mit, Liandrin Sedai«, sagte Egwene. »Wohin mitkommen?« fragte Nynaeve. Egwene warf ihr einen resignierenden Blick zu.
»Zur Toman-Halbinsel.«
Egwenes Mund klappte auf, und Nynaeve murmelte: »Es herrscht Krieg auf der Toman-Halbinsel. Hat diese Gefahr etwas mit dem Heer Artur Falkenflügels zu tun?«
»Schenkst du Gerüchten Glauben, Kind? Aber selbst, wenn sie sich bewahrheiten, kann euch das dann aufhalten? Ich glaubte, diese Männer seien eure Freunde.« An Liandrins Worten war etwas, das ihnen sagte, ihr könne das nicht passieren.
»Wir kommen mit«, sagte Egwene. Nynaeve öffnete den Mund noch mal, doch Egwene fuhr fort: »Wir gehen, Nynaeve. Wenn Rand unsere Hilfe braucht — und Mat und Perrin —, dann helfen wir auch.«
»Das ist klar«, meinte Nynaeve, »aber ich möchte wissen: warum gerade wir? Was können wir schon tun, das Moiraine oder Ihr, Liandrin, nicht fertigbringt?«
Die weißen Flecken auf Liandrins Wangen verstärkten sich. Egwene wurde bewußt, daß Nynaeve die Ehrenbezeichnung vergessen hatte, als sie Liandrin ansprach. Aber diese sagte nur: »Ihr beiden kommt aus dem gleichen Dorf. Auf irgendeine Art und Weise, die ich selbst nicht verstehe, besteht eine Verbindung zwischen euch. Darüber hinaus kann ich nichts sagen. Und ich werde keine weiteren dummen Fragen mehr beantworten. Kommt ihr nun ihretwegen mit mir?« Sie wartete auf ihre Zustimmung. Als sie nickten, entspannte sie sich sichtlich. »Gut. Ihr werdet mich eine Stunde vor Sonnenuntergang an der nördlichsten Ecke des Ogierhains treffen. Bringt eure Pferde mit und alles, was ihr für die Reise benötigt. Erzählt niemandem etwas davon.«
»Wir dürfen die Umgebung der Burg nicht ohne Erlaubnis verlassen«, sagte Nynaeve bedächtig.
»Ihr habt meine Erlaubnis. Sagt es niemandem. Absolut niemandem. In den Sälen der Weißen Burg wandeln Schwarze Ajah.«
Egwene schnappte nach Luft und hörte, wie Nynaeve genauso überrascht keuchte, doch Nynaeve erholte sich schneller. »Ich glaubte, alle Aes Sedai verleugneten deren Existenz.«
Liandrins Mund verzog sich spöttisch. »Viele verleugnen sie, aber Tarmon Gai'don kommt näher, und die Zeit zum Verleugnen ist verronnen. Die Schwarzen Ajah, das ist das Gegenteil von all dem, wofür die Weiße Burg steht, aber sie existieren, Kind. Sie sind überall. Jede Frau könnte ihnen angehören und dem Dunklen König dienen. Falls eure Freunde vom Schatten verfolgt werden, glaubt ihr dann, die Schwarzen Ajah würden euch in Freiheit und am Leben lassen, um ihnen zu helfen? Erzählt niemandem von unserem Plan — absolut niemandem! —, oder ihr erlebt vielleicht die Ankunft auf der Toman-Halbinsel nicht mehr. Eine Stunde vor Sonnenuntergang. Laßt mich nicht im Stich.« Damit war sie weg und schloß energisch die Tür hinter sich.
Egwene ließ sich auf das Bett fallen und umschlang ihre Knie. »Nynaeve, sie gehört zu den Roten Ajah. Sie kann doch gar nichts von Rand wissen. Wenn sie etwas... «
»Sie kann es nicht wissen«, stimmte Nynaeve ihr zu. »Ich möchte nur gern wissen, wieso eine Rote ihre Hilfe anbietet. Oder warum sie mit Moiraine zusammenarbeiten will. Ich hätte schwören können, daß keine der beiden der anderen Wasser gäbe, wenn sie am Verdursten wäre.«
»Glaubst du, sie lügt?«
»Sie ist eine Aes Sedai«, entgegnete Nynaeve trocken. »Ich verwette meine beste Silberspange gegen eine Heidelbeere, daß jedes Wort wahr ist, was sie gesagt hat. Aber ich frage mich, ob wir wirklich hörten, was wir zu hören glaubten.«
»Die Schwarzen Ajah.« Egwene schauderte. »Was sie darüber sagte, war völlig unmißverständlich, Licht, steh uns bei.«
»Eindeutig«, sagte Nynaeve. »Und damit hat sie auch verhindert, daß wir irgend jemanden um Rat fragen, denn wem können wir unter diesen Umständen noch vertrauen? Licht, steh uns wirklich bei!«