Min und Elayne kamen hereingestürzt und schlugen laut die Tür hinter sich zu. »Geht ihr wirklich mit?« fragte Min, und Elayne deutete auf das winzige Loch in der Wand über Egwenes Bett und sagte: »Wir haben von meinem Zimmer aus mitgehört. Wir haben alles gehört.«
Egwene und Nynaeve sahen einander an, und Egwene fragte sich, wieviel sie wirklich gehört hatten. An Nynaeves Gesicht konnte sie dieselbe Frage ablesen. Wenn sie etwas über Rand ausplaudern... »Ihr müßt das für euch behalten«, warnte Nynaeve. »Ich denke, daß Liandrin bei Sheriam die Erlaubnis eingeholt hat, uns mitzunehmen, aber falls das nicht der Fall ist und sie wegen uns morgen die ganze Burg auf den Kopf stellen, dürft ihr kein Wort verraten.«
»Es für uns behalten?« fragte Min. »Keine Angst. Ich komme sowieso mit euch. Den ganzen Tag muß ich der einen oder anderen Braunen Schwester etwas zu erklären versuchen, was ich selbst nicht verstehe. Ich kann noch nicht einmal spazierengehen, ohne daß die Amyrlin auftaucht und mich bittet, die Zukunft von jeder, die wir gerade sehen, zu lesen. Wenn diese Frau dich um etwas bittet, dann führt kein Weg daran vorbei. Ich muß für sie etwas über das Schicksal der halben Burg herausfinden, und dann will sie immer noch mehr wissen. Alles, was ich brauchte, war einen Vorwand, um abzuhauen, und den habe ich nun.« In ihrem Gesicht stand eine Entschlossenheit, die keinen Widerspruch duldete.
Egwene fragte sich, warum Min so scharf darauf war, mit ihnen zu kommen. Sie hätte ja auch auf eigene Faust verschwinden können. Aber bevor sie länger darüber nachdenken konnte, sagte Elayne: »Ich komme auch mit.«
»Elayne«, meinte Nynaeve sanft, »Egwene und ich sind durch unsere gemeinsame Heimat Emondsfeld mit den Jungen verbunden. Du bist die Tochter-Erbin von Andor. Wenn du aus der Weißen Burg verschwindest, könnte das sogar einen Krieg auslösen.«
»Mutter würde keinen Krieg gegen Tar Valon anfangen, und wenn sie mich teerten und federten, was durchaus geschehen könnte. Wenn ihr drei wegrennen und auf Abenteuer ausziehen könnt, dann glaubt ja nicht, daß ich hierbleibe und Geschirr abwasche und den Boden schrubbe und mich von irgendeiner Aufgenommenen schlagen lasse, weil ich das Feuer nicht genauso eingelegt habe, wie sie es wollte. Gawyn wird vor Neid erblassen, wenn er das hört.« Elayne grinste und faßte hinüber, um mit Egwenes Haar zu spielen. »Außerdem, falls ihr Rand lange genug frei herumlaufen laßt, habe ich vielleicht eine Chance, ihn mir zu greifen.«
»Ich glaube nicht, daß eine von uns Rand bekommt«, sagte Egwene traurig.
»Dann müssen wir feststellen, wen er haben will, und ihr das Leben zur Hölle machen. Aber so blöd ist er nicht, daß er sich eine andere aussucht, wenn er eine von uns haben kann. Ach, lächle doch mal wieder, Egwene. Ich weiß, daß er dir gehört. Ich fühle mich nur« — sie zögerte und suchte nach dem passenden Ausdruck — »frei. Ich habe noch nie ein Abenteuer erlebt. Ich wette, keine von uns wird sich in den Schlaf weinen, wenn wir etwas Tolles erleben. Und falls doch, werden wir sichergehen, daß die Geschichtenerzähler diesen Teil auslassen.«
»Das ist doch alles Quatsch«, sagte Nynaeve. »Wir reiten zur Toman-Halbinsel. Du hast die Neuigkeiten und die Gerüchte gehört. Es wird gefährlich. Du mußt hierbleiben.«
»Ich habe auch gehört, was Liandrin Sedai über die —die Schwarzen Ajah gesagt hat.« Elayne flüsterte beinahe, als sie diese Bezeichnung aussprach. »Wie sicher werde ich hier sein, wenn die sich hier befinden? Wenn Mutter auch nur ahnte, daß es wirklich Schwarze Ajah gibt, würde sie mich lieber mitten in eine Schlacht hineinschicken, nur um mich von hier wegzubringen.«
»Aber Elayne... «
»Es gibt nur eines, um mich davon abzuhalten, daß ich mitkomme. Ihr müßt es eben Sheriam erzählen. Wir werden ein schönes Bild abgeben, wenn wir in ihrem Büro in einer Reihe stehen. Wir vier. Ich glaube nicht, daß Min sich da noch ausschließen könnte. Aber da ihr es Sheriam nicht erzählen werdet, komme ich auch mit.«
Nynaeve hob abwehrend die Hände. »Vielleicht fällt dir etwas ein, um sie noch zur Vernunft zu bringen«, wandte sie sich an Min.
Min hatte sich an die Tür gelehnt und Elayne angeblinzelt, und nun schüttelte sie den Kopf. »Ich glaube, sie muß genauso mitkommen wie ihr beiden. Wie wir alle. Ich kann jetzt die Gefahr um euch alle herum deutlicher erkennen. Nicht deutlich genug, um festzustellen, was es ist, aber ich denke, es hat etwas mit eurer Entscheidung zu tun, hier wegzugehen. Deshalb ist sie jetzt klarer umrissen und eindeutiger.«
»Das ist noch kein Grund dafür, daß sie mitkommen muß«, sagte Nynaeve, aber Min schüttelte erneut den Kopf.
»Sie ist mit — mit diesen Jungen genauso verbunden wie du oder Egwene oder ich. Sie gehört dazu, Nynaeve, gleich, was es ist. Ein Teil des Musters, würde eine Aes Sedai vermutlich dazu sagen.«
Elayne schien von ihren Worten überrascht, aber auch interessiert. »Tatsächlich? Welcher Teil, Min?«
»Ich kann es nicht klar erkennen.« Min blickte zu Boden. »Manchmal wünsche ich mir, ich könnte überhaupt nichts erkennen. Den meisten Leuten gefällt das, was ich sehe, sowieso nicht.«
»Wenn wir schon alle gehen«, sagte Nynaeve, »dann sollten wir uns jetzt ans Planen machen.« Wie viele Einwände sie auch vorher gemacht haben sollte: Wenn die Entscheidung gefallen war, wandte sich Nynaeve sofort den praktischen Problemen zu — was sie mitnehmen mußten und wie kalt es sein würde, wenn sie die TomanHalbinsel erreichten, und wie sie ihre Pferde aus den Ställen holen konnten, ohne aufgehalten zu werden.
Während sie ihr lauschte, fragte Egwene sich doch immer noch, welche Gefahr Min auf sie lauern sah und was Rand bedrohte. Ihr fiel nur eines ein, was Rand bedrohen konnte, und bei dem Gedanken überlief es sie kalt. Halt aus, Rand. Halt aus, du wollköpfiger Idiot. Irgendwie werde ich dir helfen.
39
Flucht aus der Weißen Burg
Egwene und Elayne nickten jeweils kurz den Gruppen von Frauen zu, die sie unterwegs zum Ausgang der Burg trafen. Es war schon gut, daß sich gerade heute so viele Frauen von außerhalb in der Burg befanden, dachte Egwene. Es waren zu viele, als daß sie alle eine Aes Sedai zur Begleitung dabeihaben konnten. Allein oder in kleinen Gruppen zusammenstehend, reich oder ärmlich nach der Mode eines halben Dutzends Länder gekleidet, manche noch staubig von ihrer Reise nach Tar Valon: So standen sie ein wenig verloren herum und warteten darauf, bis sie an der Reihe waren, eine der Aes Sedai zu befragen oder ihre Petitionen abzugeben. Ein paar der Frauen — Ladies oder Kauffrauen oder die Ehefrauen von Kaufleuten —hatten Dienerinnen dabei. Sogar einige Männer waren mit Petitionen erschienen, standen abseits und wirkten nervös. Es war schon etwas Besonderes, sich in der Weißen Burg zu befinden. Sie beäugten sich gegenseitig mißtrauisch.
Vornweg marschierte Nynaeve mit flatterndem Umhang und stur geradeaus gerichtetem Blick. Sie schritt einher, als wisse sie genau, wohin sie wolle — was ja auch stimmte, jedenfalls, solange sie nicht angehalten wurden —, und als habe sie jedes Recht, sich hier zu befinden. Doch das war natürlich eine ganz andere Sache. Sie hatten die Kleidung angelegt, in der sie nach Tar Valon gekommen waren, und wirkten darin nicht wie Bewohnerinnen der Burg. Jede hatte ihr bestes Kleid angezogen, sofern der Rock zum Reiten geeignet war, und dazu trugen sie reich bestickte Wollumhänge. Solange sie sich von allen fernhielten, die sie vielleicht erkennen konnten — einigen hatten sie bereits ausweichen müssen —, glaubte Egwene, daß sie es schaffen konnten. »Das wäre wohl besser für einen Ausritt im Park irgendeines Lords geeignet als für den harten Ritt zur Toman-Halbinsel«, hatte Nynaeve trocken bemerkt, als Egwene ihr half, die Knöpfe des grauseidenen Kleides mit den Goldstickereien und den perlenbesetzten Blumen auf Busen und Ärmeln zu schließen, »aber damit können wir vielleicht unbemerkt entkommen.«