Jetzt schob Egwene ihren Umhang nach hinten und glättete ihr goldverziertes, grünes Seidenkleid. Sie sah Elayne kurz an, die in Blau mit beigefarbenen Streifen gekleidet war. Sie konnte nur hoffen, daß Nynaeve recht behielt. Bisher hatte man sie für adlige oder zumindest reiche Frauen gehalten, die hier Petitionen abgeben wollten.
Eine kleine Ansammlung von Bauersfrauen in dicken, dunklen Wollkleidern knickste, als sie vorbeischritten. Egwene blickte zu Min zurück, sobald sie weit genug entfernt waren. Min hatte wieder ihre Hosen und das bauschige Männerhemd an, und darüber den braunen Mantel und Umhang eines Jungen. Über ihr kurzes Haar hatte sie einen alten breitkrempigen Hut gestülpt. »Eine von uns muß den Diener spielen«, hatte sie lachend erklärt. »Frauen, die so angezogen sind wie ihr, haben immer mindestens einen dabei. Ihr werdet euch noch wünschen, meine Hosen zu tragen, wenn wir wegrennen müssen.« Sie schleppte vier Satteltaschen, die vor warmer Kleidung überquollen. Bevor sie zurückkehrten, würde es auf jeden Fall Winter. Auch Proviant hatten sie eingepackt, den sie aus der Küche entwendet hatten. Er würde reichen, bis sie sich wieder etwas kaufen konnten.
»Bist du sicher, daß du mir nicht einen Teil des Gepäcks zum Tragen geben willst, Min?« fragte Egwene leise.
»Sie sind nur sperrig«, sagte Min grinsend, »aber nicht schwer.« Sie schien alles für ein Spiel zu halten oder tat zumindest so. »Und die Leute würden sich garantiert wundern, warum eine so feine Lady ihre eigenen Satteltaschen schleppen muß. Du kannst deine und meinetwegen auch meine dann tragen, wenn wir... « Ihr Grinsen verging, und sie flüsterte eindringlich: »Aes Sedai!«
Egwene blickte rasch nach vorn. Eine Aes Sedai mit langem, glattem, schwarzem Haar und zu Elfenbein gealterter Haut kam durch den Korridor auf sie zu, wobei sie den Ausführungen einer Frau in grober Bauernkleidung und einem geflickten Umhang lauschte. Die Aes Sedai hatte sie noch nicht erspäht, aber Egwene erkannte sie. Es war Takima, eine der Braunen Ajah, die ansonsten Geschichte der Weißen Burg und der Aes Sedai lehrte. Sie würde auf hundert Schritt Entfernung eine ihrer Schülerinnen erkennen.
Nynaeve bog in einen Seitengang ein, ohne ihre Schritte zu verlangsamen, aber dort kam eine der Aufgenommenen an ihnen vorbei, eine schlacksige Frau mit ewig finsterem Gesicht, die eine Novizin mit rot angelaufenem Gesicht am Ohr hinter sich herzog.
Egwene mußte schlucken, bevor sie etwas sagen konnte: »Das waren Irella und Else. Haben sie uns bemerkt?« Sie brachte es nicht fertig, sich noch einmal umzublicken.
»Nein«, sagte Min nach einem Moment. »Sie haben nur unsere Kleider bemerkt.« Egwene atmete vor Erleichterung tief durch. Auch von Nynaeve war ein Seufzer der Erleichterung zu hören.
»Bevor wir die Ställe erreichen, bekomme ich noch einen Herzschlag«, murmelte Elayne. »Fühlt man sich bei einem Abenteuer die ganze Zeit so, Egwene? Das Herz in der Hose und der Magen in den Kniekehlen?«
»Ich denke schon«, meinte Egwene bedächtig. Es war schwer zu verstehen, daß sie noch vor einiger Zeit ganz wild auf Abenteuer gewesen war und etwas Gefährliches und Aufregendes anstellen wollte, so wie die Menschen in den Legenden. Jetzt war ihr klar, daß alles Erregende darin bestand, woran man sich erinnerte, und daß die Geschichten eine Menge unangenehmer Dinge nicht erwähnten. Das sagte sie auch Elayne.
»Trotzdem«, meinte die Tochter-Erbin entschieden, »ich habe so etwas Aufregendes noch nie erlebt und hätte auch keine Gelegenheit dazu, wenn es nach Mutter ginge. Und die hat mich am Gängelband, bis ich selbst einmal den Thron besteige.«
»Seid jetzt ruhig, ihr beiden«, sagte Nynaeve. Zur Abwechslung einmal waren sie allein im Korridor. Nach beiden Seiten hin war niemand zu sehen. Sie zeigte auf eine enge Wendeltreppe, die nach unten führte. »Das ist genau das, was wir jetzt brauchen. Ich hoffe, ich habe bei den vielen Wendungen und Kurven, die wir beschrieben haben, nicht die Richtung verloren.«
Sie begab sich sicheren Schrittes zur Treppe, und die anderen folgten ihr. Und tatsächlich, die kleine Tür am Fuß der Treppe führte hinaus auf den staubigen Hof des Südstalles, wo die Pferde der Novizinnen eingestellt waren, soweit sie welche hatten. Gewöhnlich blieben sie dort, bis sie wieder gebraucht wurden, also bis sie zu Aufgenommenen gemacht oder heimgeschickt wurden. Die schimmernde Masse der Burg erhob sich hinter ihnen.
Das Gelände der Burg bedeckte eine große Fläche, und ihre Mauer war höher als die der sie umgebenden Stadt.
Nynaeve ging in den Stall hinein, als gehöre er ihr. Es roch drinnen nach sauberem Heu und Pferden. Zwei lange Boxenreihen zogen sich nach hinten in die Schatten hinein, die von Lichtbalken aus den Dachluken durchbrochen wurden. Endlich einmal standen die zerzauste Bela und Nynaeves graue Stute in Boxen nahe dem Tor. Bela schob ihre Nase über die Boxentür und wieherte leise, als Egwene zu ihr ging. Es war nur ein Stallbursche in der Nähe, ein netter älterer Mann mit Grau im Bart, der auf einem Strohhalm herumkaute.
»Du wirst unsere Pferde satteln«, sagte Nynaeve im Kommandoton zu ihm. »Diese beiden. Min, suche dein und Elaynes Pferd.« Min ließ die Satteltaschen fallen und zog Elayne tiefer in den Stall hinein.
Der Stallbursche runzelte die Stirn und nahm bedächtig den Strohhalm aus dem Mund. »Da muß irgendein Fehler vorliegen, Lady. Diese Tiere... «
»... sind unsere«, sagte Nynaeve mit fester Stimme. Sie verschränkte die Arme über der Brust, so daß ihr Schlangenring deutlich sichtbar war. »Du sattelst sie jetzt bitte.«
Egwene hielt die Luft an. Es war ihr letzter Ausweg gewesen, daß Nynaeve sich als Aes Sedai ausgeben würde, falls sie Schwierigkeiten mit jemand hatten, der sie möglicherweise unter diesen Umständen als solche akzeptieren würde. Natürlich konnte das einer Aufgenommenen oder gar einer Aes Sedai nicht passieren, aber bei einem Stallburschen...
Der Mann sah erst Nynaeves Ring an und dann sie selbst. »Man hat mir gesagt, zwei«, sagte er schließlich unbeeindruckt. »Eine der Aufgenommenen und eine Novizin. Es war nicht von vieren die Rede.«
Egwene hätte am liebsten laut losgelacht. Ganz klar —Liandrin hatte sie nicht für fähig gehalten, ihre Pferde selbst zu holen.
Nynaeve blickte enttäuscht drein, sagte dann aber in schärferem Tonfalclass="underline"
»Du holst jetzt die Pferde heraus und sattelst sie, oder du wirst Liandrin als Heilerin benötigen, falls sie so was für dich tut.«
Der Stallbursche flüsterte Liandrins Namen, aber nach einem Blick auf Nynaeves Miene kümmerte er sich um die Pferde. Er knurrte höchstens ein oder zweimal etwas in sich hinein, aber so leise, daß nur er selbst es hören konnte. Min und Elayne kehrten mit ihren eigenen Reittieren zurück, als er gerade den zweiten Sattelgurt festzurrte. Mins Pferd war ein hoher, staubfarbener Wallach, und Elayne führte eine braune Stute mit edel gekrümmtem Hals am Zügel.
Nach dem Aufsitzen wandte sich Nynaeve noch einmal dem Stallburschen zu: »Zweifellos hat man dir befohlen, den Mund zu halten, und daran ändert sich nichts, ob wir nun zwei sind oder zweihundert. Falls du anders denkst, solltest du auch bedenken, was Liandrin mit dir macht, wenn sie erfährt, daß du etwas ausgeplaudert hast, worüber du schweigen solltest.«
Beim Wegreiten warf ihm Elayne eine Münze zu und murmelte: »Für deine Mühe, guter Mann. Du hast es gut gemacht.« Draußen lächelte sie Egwene an und meinte: »Mutter sagt, Zuckerbrot und Peitsche wirken immer besser als die Peitsche allein.«
»Ich hoffe, bei den Wachen werden wir beides nicht benötigen«, sagte Egwene. »Ich hoffe, daß Liandrin auch mit denen gesprochen hat.«
Am Tarlomen-Tor jedoch, das die Südmauer der Burgumfriedung durchbrach, war nicht festzustellen, ob jemand mit den Wachsoldaten gesprochen hatte oder nicht. Sie winkten die vier Frauen nach einem kurzen Blick und einer höflichen Verbeugung einfach durch. Die Wachen waren dazu da, jene zurückzuweisen, die gefährlich wirkten, hatten aber wohl keine Anweisung, irgend jemanden drinnen festzuhalten.