Es mußte draußen, auf der Welt außerhalb der Kurzen Wege, schon längst Nacht sein, als Liandrin auf einer Insel plötzlich vom Pferd stieg und verkündete, daß sie hier ihr Essen einnehmen und schlafen würden und daß sich unter den Lasten auf dem Packpferd auch Lebensmittel fänden.
»Teilt es euch auf«, sagte sie, ohne jemanden Bestimmtes damit zu beauftragen. »Wir werden gute zwei Tage bis zur Toman-Halbinsel benötigen. Ich will nicht, daß ihr hungrig ankommt, falls ihr selbst nicht an Essen gedacht haben solltet.« Mit sparsamen Bewegungen nahm sie ihrer Stute den Sattel ab und legte ihr Beinfesseln an. Dann setzte sie sich auf ihren Sattel und wartete darauf, daß ihr jemand etwas zu essen brachte.
Elayne brachte ihr Fladenbrot und Käse. An der Haltung der Aes Sedai war klar zu erkennen, daß sie keinen Wert auf ihre Gegenwart legte, also aßen die anderen ihr Brot und ihren Käse ein Stück weiter weg. Sie hatten ihre Sättel zusammengeschoben und sich ebenfalls draufgesetzt. Die Dunkelheit jenseits der Lichtkreise ihrer Laternen hob ihre Stimmung auch nicht gerade.
Nach einer Weile sagte Egwene: »Liandrin Sedai, was passiert, wenn wir dem Schwarzen Wind begegnen?« Min formte fragend das Wort mit dem Mund, aber Elayne quiekte erschreckt. »Moiraine Sedai hat gesagt, man könne ihn nicht töten und ihm nicht einmal besonders weh tun, und ich spüre hier deutlich die Verderbnis dieses Orts, die nur darauf wartet, alles zu verdrehen, was wir mit Hilfe der Macht tun.«
»Du wirst noch nicht einmal an die Wahre Quelle denken, bis ich es dir befehle«, sagte Liandrin in scharfem Ton. »Ach, wenn eine wie du hier die Macht zu lenken versuchte, könnte sie genau wie ein Mann dem Wahnsinn verfallen. Du hast noch nicht die nötige Übung, um der Verderbnis dieser Männer zu widerstehen, die dies angelegt haben. Falls der Schwarze Wind auftaucht, werde ich mich mit ihm befassen.« Sie spitzte die Lippen und betrachtete einen Brocken Käse. »Moiraine weiß nicht soviel, wie sie sich einbildet.« Lächelnd schob sie den Käse in den Mund.
»Ich kann sie nicht leiden«, murmelte Egwene so leise, daß die Aes Sedai es nicht hören konnte. »Wenn Moiraine mit ihr zusammenarbeiten kann, können wir es auch«, sagte Nynaeve ruhig. »Nicht, daß mir Moiraine lieber wäre als Liandrin, aber wenn sie sich wieder in die Angelegenheiten Rands und der anderen einmischen... « Sie schwieg und zog ihren Umhang hoch. Die Dunkelheit strömte keine Kälte aus, doch irgendwie erschien es ihnen kalt.
»Was ist der Schwarze Wind?« fragte Min. Als Elayne es ihr unter vielen Versicherungen, Elaida habe das behauptet und ihre Mutter hätte dies gesagt, erklärt hatte, seufzte Min. »Das Muster ist uns eine ganze Menge schuldig. Ich weiß nicht, ob irgendein Mann das Risiko wert ist.«
»Du hättest ja nicht mitzukommen brauchen«, machte ihr Egwene klar. »Du hättest zu jeder Zeit gehen können. Keiner hätte dich aufgehalten, wenn du die Burg verlassen hättest.«
»Ja, ich hätte durchaus weglaufen können«, sagte Min trocken. »Genauso einfach wie du oder Elayne. Das Muster kümmert sich nicht um unsere Wünsche. Egwene, was ist, wenn Rand dich trotz allem, was du seinetwegen durchmachst, nicht heiratet? Was, wenn er eine Frau heiratet, die du noch gar nicht kennst, oder Elayne, oder mich? Was dann?«
Elayne schnaubte: »Mutter hätte etwas dagegen.«
Egwene schwieg eine Weile. Rand lebte vielleicht nicht lange genug, um irgend jemanden zu heiraten. Und falls doch... Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Rand jemandem weh tun würde. Nicht einmal, wenn er wahnsinnig wird? Es mußte einen Weg geben, das aufzuhalten oder zu ändern; Aes Sedai wußten so viel und konnten so viel tun. Wenn sie es verhindern könnten, warum tun sie es dann nicht? Die einzige Antwort war, daß sie es nicht konnten, und die Antwort wollte sie nicht hören.
Sie bemühte sich, heiter zu klingen: »Ich glaube nicht, daß ich ihn heiraten werde. Aes Sedai heiraten nur selten, das wißt ihr doch. Aber ich würde mich an eurer Stelle auch nicht auf ihn versteifen. Auch du nicht, Elayne. Ich glaube nicht... « Ihre Stimme brach, und sie hustete schnell, damit es die anderen nicht merkten. »Ich glaube nicht, daß er jemals heiraten wird. Aber wenn doch, dann wünsche ich derjenigen viel Glück, auch wenn es eine von euch sein sollte.« Sie glaubte, daß es überzeugend geklungen hatte. »Er ist stur wie ein Maulesel und hat so manchen Fehler, aber er ist auch lieb.« Ihre Stimme schwankte, doch sie brachte es gerade noch fertig, das Schwanken in ein Auflachen zu verwandeln.
»Du magst ja behaupten, daß es dich nicht interessiert«, sagte Elayne, »aber du hättest noch mehr dagegen als Mutter. Er ist wirklich interessant, Egwene. Interessanter als jeder andere Mann, den ich je kennengelernt habe, auch wenn er nur Schafhirte ist. Wenn du dumm genug bist, ihn dir durch die Lappen gehen zu lassen, hast du es dir seihst zuzuschreiben, wenn ich ihn dir und Mutter zum Trotz heirate. Es wäre nicht das erste Mal, daß ein Prinz von Andor vor seiner Heirat keinen Titel besitzt. Aber so dumm bist du nicht, also höre auf, dich dumm zu stellen. Zweifellos wirst du eine der Grünen Ajah und machst einen deiner Behüter aus ihm. Die einzigen Grünen, von denen ich weiß, daß sie nur einen Behüter haben, sind auch mit ihm verheiratet.«
Egwene zwang sich zum Mitspielen und meinte, wenn sie zu den Grünen gehöre, werde sie zehn Behüter haben.
Min beobachtete sie mit gerunzelter Stirn, und Nynaeve wiederum beobachtete Min nachdenklich. Als sie dann bequemere Reisekleider aus ihren Satteltaschen holten und anlegten, breitete sich Schweigen aus. Es war schwer, sich in dieser Umgebung gute Laune zu erhalten.
Egwene schlief erst spät ein, und dann war es ein unruhiger Schlaf mit vielen Alpträumen. Sie träumte nicht von Rand, sondern von dem Mann mit den Augen aus Feuer. Diesmal war sein Gesicht nicht maskiert, und es sah mit seinen kaum verheilten Verbrennungen furchtbar aus. Er sah sie nur an und lachte, aber das war schlimmer als die folgenden Träume, in denen sie sich in den Kurzen Wegen verirrte und vom Schwarzen Wind verfolgt wurde. Sie war dankbar, als Liandrins Stiefelspitze sich in ihre Rippen bohrte, um sie aufzuwecken. Sie fühlte sich, als habe sie kein Auge zugemacht.
Liandrin trieb sie den ganzen nächsten Tag hart an —oder was man hier als Tag bezeichnen mochte. Ihre Laternen mußten die Sonne ersetzen. Sie ließ sie nicht rasten, bis sie müde im Sattel schwankten. Der Steinboden war ein hartes Bett, doch nach nur wenigen Stunden trieb Liandrin sie bereits wieder hoch. Sie wartete kaum, bis sie aufgesessen waren. Rampen und Brücken, Inseln und Wegweiser. Egwene sah so viele in dieser Pechschwärze, daß sie sie nicht mehr zählen konnte. Auch die Stunden und Tage konnte sie nicht mehr zählen — ihr Zeitgefühl funktionierte hier einfach nicht mehr. Liandrin gestattete ihnen nur kurze Pausen zum Essen und um die Pferde ausruhen zu lassen, und die Dunkelheit drückte auf ihre Schultern. Sie hingen alle außer Liandrin wie Mehlsäcke in ihren Sätteln. Die Aes Sedai schien von der Anstrengung und der Dunkelheit unbeeindruckt. Sie wirkte so frisch wie in der Weißen Burg und genauso kalt. Sie ließ niemanden einen Blick auf das Pergament erhaschen, das sie immer mit den Wegweisern verglich, und steckte es jedesmal mit einem kurzen »Ihr versteht das sowieso nicht« weg, wenn Nynaeve sie danach fragte.
Und dann, während Egwene noch müde in die Dunkelheit blinzelte, ritt Liandrin von einem Wegweiser weg — nicht eine weitere Rampe hinunter oder auf eine Brücke, sondern entlang einer zerfransten weißen Linie, die in die Dunkelheit hineinführte. Egwene blickte sich nach ihren Freundinnen um, und dann beeilten sich alle, Liandrin zu folgen. Vor ihnen entfernte die Aes Sedai bereits im Lichtschein ihrer Laternen das Avendesora-Blatt aus dem Fries eines Wegetors.